Onboarding – noch immer unterschätzt

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„Da haben wir einen Top-Kandidaten für uns gewonnen“ freut sich der Chef über die Einstellung eines hochqualifizierten Mitarbeiters, „jemand von dem Kaliber wird sich bei uns ohne Probleme durchsetzen.“

Schon ein halbes Jahr später war der mit großen Erwartungen angetretene Top-Kandidat wieder weg. Ein sechsstelliges Jahresgehalt ist wirkungslos verpufft. „Manchmal passt es eben nicht!“ kann als Rechtfertigung dafür nicht gelten. Was hier nicht passte, ist vielmehr die fehlende Sensibilisierung des Neulings für die spezielle Unternehmenskultur sowie die konkreten Rahmenbedingungen und Fallstricke seines neuen Arbeitsumfeldes. Viele Mitarbeiter kommen an Bord, ohne jedoch wirklich „ongeboardet“ zu sein.

1. Schlechtes Onboarding ist verdeckte Gewinnvernichtung

Die Herausforderungen, vor denen Unternehmen heute bei der Gewinnung qualifizierter Fachkräfte stehen, sind in aller Munde. Vom „war for talents“ ist die Rede und einem Bewerbermarkt, in dem Generation Y und Z ihren potentiellen Arbeitgebern vorgeben, unter welchen Bedingungen sie ihre Zeit und Energie zur Verfügung stellen. Dieser Trend zwingt Personalabteilungen zu neuen und kreativen Lösungsansätzen, um vielversprechende Talente und dringend benötigte Fachkompetenz in ihr Unternehmen zu locken. Das Fachkräfteproblem zwingt inzwischen auch das Top-Management, sich für HR-Kennzahlen zu interessieren.

Eine unbesetzte Stelle kostet in Deutschland pro Jahr durchschnittlich € 74.3081) an Wertschöpfung. Kündigt ein Mitarbeiter ungewollt, entstehen oft Nachbesetzungskosten in Höhe eines Jahresgehaltes. 28% der Unternehmen erhalten Kündigungen von Mitarbeitern bevor diese ihre Stelle überhaupt antreten2). 20-30% aller neuen Mitarbeiter scheitern oder kündigen wegen schlechter Integration bereits im ersten Jahr.

60% der Personaler sind überzeugt2), dass Onboarding die Fluktuation reduziert. Strukturiertes Onboarding korreliert nämlich direkt mit Retention. Wenn nur halb so viele Mitarbeiter kündigen, sinken auch die Hiring-Kosten um 50%. Warum also wird Onboarding in Unternehmen oft nur halbherzig betrieben?

2. Administratives Onboarding: Das absolute Minimum

Nach einer Studie von Egon Zehnder und Genesis Advisors aus dem Jahr 20173) bieten 7% aller untersuchten Unternehmen neuen Mitarbeitern keinerlei Hilfe beim Onboarding. Die Devise für die Neuen heißt noch viel zu oft „sink or swim“.

Jeder Neuankömmling sollte schnellstens über die technischen Möglichkeiten verfügen, seine Aufgaben zu erledigen. Das Anforderungsprofil hierfür ist so einfach wie klar: Alle neuen Mitarbeiter erhalten am ersten Tag einen Arbeitsplatz mit Desktop und/oder Laptop/Tablet sowie ein Smartphone, voll funktionsfähig, startbereit sowie personalisiert mitsamt einer Liste aller relevanten Applikationen und der zugehörigen Startpassworte. Im aktualisierten Intranet ist der Neue bereits an Tag 1 intern visibel. Aktuelle Visitenkarten bieten ihm die Möglichkeit, auch extern aufzutreten.

3. Klassisches Onboarding: Eine grundlegende Orientierung

66% aller Unternehmen bieten Neuankömmlingen nur eine grundlegende Unterstützung. Dabei werden Organisationsstrukturen, interne Abläufe und Richtlinien proaktiv vorgestellt. Darüber hinaus werden neue Mitarbeiter mit allen für ihren Aufgabenbereich relevanten Stakeholdern in Kontakt gebracht.

Ohne enge Begleitung bleibt es neuen Mitarbeitern allerdings weitgehend selbst überlassen, wie sie die Flut von Informationen und Kontakten einordnen und welche Prioritäten sie selbst für ihren Einarbeitungsprozess setzen. Das erhöht zwar die Erfolgschance, schützt allerdings nicht vor diversen Fettnäpfchen, die für jeden Neuen in unbekannter Umgebung bereitstehen.

4. Zielgerichtete Integration: Der Königsweg

Nur 25% aller Unternehmen gehen bereits weiter und definieren für neue Mitarbeiter einen (individuellen) Onboarding-Prozess, der eine zügige und vollständige Integration zum Ziel hat.

Hier findet eine gezielte Einführung in die Kultur und Strategie des Unternehmens statt. Schnittstellen werden beschrieben und die in jedem Unternehmen bestehenden Interessenkonflikte transparent gemacht. Vor einem Treffen mit Stakeholdern erfolgt nicht nur eine inhaltliche Vorbereitung, sondern auch eine Einstimmung auf die Person des Stakeholders und seine Rolle im Unternehmen sowie eventuelle Interessenkonflikte. Ein Onboarding-Plan zeigt neuen Mitarbeitern mit konkreten Schritten ihren Weg, zügig operative Handlungsfähigkeit zu erreichen, eine erfolgreiche Integration ins Team sicherzustellen und zielorientiert Netzwerke und Allianzen zu entwickeln. Eine Sensibilisierung für die informelle Unternehmenskultur und die gelebten Werte lässt verpöntes Verhalten sicher erkennen und vermeiden.

Alle dies hilft Neuankömmlingen die Vielzahl möglicher Fettnäpfchen zu vermeiden. Das ist essenziell, denn manch ein Fehler der ersten Wochen verfolgt Mitarbeiter über Jahre.

5. Onboarding Coaching: Coach und Sparringspartner zugleich

Wenn neue Mitarbeiter scheitern, liegt das fast nie an einem Mangel an Fachwissen oder Erfahrung. Stolpersteine sind jedoch oft ein unzureichendes Gespür für das kulturelle Selbstverständnis der neuen Organisation oder die ungeschriebenen Regeln der internen Kommunikation und ein zu langsamer Aufbau von informellen Netzwerken und Allianzen

Ein Onboarding Coach hilft neuen Mitarbeitern, sicher anzukommen. In den ersten Monaten braucht jeder einen Ansprechpartner, der ihm hilft, sich selbst zu hinterfragen, neue Beobachtungen einzuordnen, gewohntes Verhalten zu adjustieren und neue Strategien zu entwickeln, die einen gezielten Netzwerkaufbau, die Bildung wichtiger Allianzen oder schlicht eine gute Beziehung zu Vorgesetzten und Kollegen ermöglichen. In dieser Phase ist der Coach der erste und (in aller Regel) einzige Gesprächspartner, mit dem ein absolut offenes (weil vertrauliches) Gespräch möglich ist. Als „Schutzengel“ wirkt der Coach, wenn es gilt, konkrete Schritte zu planen, Alternativen auszuloten und deren Konsequenzen zu antizipieren und eben Fehltritte zu vermeiden.

Idealerweise ist ein Onboarding Coaching so angelegt, dass der Coach Feedbackschleifen mit Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeitern organisiert. Effektives und zielgenaues Feedback ist essenziell dafür, dass der Onboarding-Prozess „in der Spur“ bleibt.

Wird Onboarding mit dem klaren Ziel einer Integration konzipiert, wirkt es doppelt: Erstens wird das Risiko des Scheiterns nahezu ausgeschlossen. Zweitens reduziert ich die Einarbeitungszeit um etwa die Hälfte.

6. Internes oder externes Onboarding Coaching: Best of both worlds

Personaler wissen um die Bedeutung eines effektiven Onboarding-Prozesses und die Wirksamkeit eines professionellen Onboarding Coachings. Mehr noch, viele HR-Kollegen verfügen über eine Coaching-Ausbildung und notwendige Kompetenzen, um ihre neuen Kollegen als Coach begleiten zu können, aber kaum über die nötige Zeit.

Effektives Onboarding Coaching beginnt mit Unterzeichnung des Arbeitsvertrages. Regelmäßige Interaktion bereits vor dem ersten Arbeitstag mündet in die Erstellung eines individuellen Onboarding-Planes. Insbesondere nach dem Start ist ein regelmäßiger wöchentlicher Kontakt erfolgskritisch, und zwar in genau dem zeitlichen Umfang, den der Mitarbeiter braucht.

Um dies leisten zu können, benötigt ein Onboarding Coach nicht nur eine (von der ICF) verifizierte Coaching Expertise, sondern auch die Vertrautheit mit der Dynamik komplexer Organisationen und Unternehmen sowie idealerweise eigene Führungserfahrung.

Best Practise für ein effektives Onboarding ist eine sachgerecht definierte Aufgabenteilung zwischen internen HR-Experten und externen Coaches. Gemeinsam wird der Onboarding-Prozess definiert und individuell auf den neuen Mitarbeiter zugeschnitten. Während HR-Betreuer und Vorgesetzter vor allem die fachliche Einarbeitung und das Kennenlernen der neuen Organisation fördern, unterstützt der Onboarding Coach den Neuankömmling vertrauensvoll dabei, die kulturellen, psychologischen und sozialen Herausforderungen zu meistern.

Effektive Abstimmung und ein individueller Plan sichern den Erfolg jedes Onboardings, denn auch hier gilt:

„Wer beim Planen versagt, plant sein Versagen.“ (Benjamin Franklin)


Quellen:

1) (näherungsweise) BIP 2020 von € 3.329 Mrd. bei 44,8 Mio. Erwerbstätigen im Jahresdurchschnitt 2020 in Deutschland (gemäß DESTATIS – Statistisches Bundesamt)

2) Zweite Onboarding-Umfrage der Haufe Group 2018

3) „Onboarding Isn’t Enough“, Mark Byford/Michael D. Watkins/Lena Triantogiannis, Harvard Business Review, 05/2017


International Coaching Federation (ICF) – Die International Coaching Federation (ICF) ist die weltweit größte Organisation, die sich für die globale Weiterentwicklung des Coaching-Berufs einsetzt und die Rolle von Coaching als integraler Bestandteil einer florierenden Gesellschaft fördert. Gegründet 1995, arbeiten die mehr als 35.000 Mitglieder in mehr als 140 Ländern und Gebieten an den gemeinsamen Zielen, das Bewusstsein für Coaching zu stärken und die Integrität des Berufs durch lebenslanges Lernen und die Einhaltung der höchsten ethischen Standards zu wahren. Durch die Arbeit ihrer sechs einzigartigen Familienorganisationen unterstützt die ICF professionelle Coaches, Coaching-Klienten, Organisationen, Gemeinschaften und die Welt durch Coaching. Besuchen Siecoachingfederation.orgoder coachfederation.de für weitere Informationen.

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Karsten Wetwitschka, ICF

Karsten Wetwitschka

Dr. Karsten Wetwitschka ist Executive Coach (PCC), Management Trainer und Public Speaker mit fundierter Executive-Expertise. Er war 25 Jahre bei einer globalen Corporate und Investment Bank beschäftigt und erwarb dort Managementerfahrung auf allen Hierarchieebenen in Europa und Nordamerika. Wetwitschka ist promovierter Mathematiker und Diplompädagoge. Vor seiner Bank-Karriere arbeitete er in Forschung und Lehre am Fachbereich Mathematik der heutigen Universität Erfurt.

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