Der Homeoffice-Hype

Logbuch einer Transformation

Homeoffice wird in vielen Unternehmen gerade zum neuen Normal. Aber ist das wirklich schon zu Ende gedacht? Das Fenster für New Work ist jetzt weit offen.

Es klingelt. Der Postbote steht draußen – ich unterbreche meine Arbeit, um die Post zu holen. Zwischen zwei Video-Calls gehe ich in die Küche, mache mir einen Espresso – und wechsle ein paar Worte mit meiner Frau. Der Arbeitsalltag im Homeoffice sieht auch bei Staffs nicht anders aus als bei Millionen Mitarbeiter:innen. Es ist unglaublich, aber ein Unternehmen als Vorstand aus dem Homeoffice überwiegend zu führen funktioniert – auch langfristig? Covid-19 hat uns in diese Situation gezwungen – und inzwischen finden wir uns darin gut zurecht.

Die Pandemie hat der Digitalisierung einen enormen Schub versetzt. Überall wird mit neuen Arbeits- und Organisationsformen experimentiert. Die Menschen sehen das inzwischen auch als Chance. Eine kontinuierliche Umfrage des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informationstechnik FIT zeigt die wachsende Akzeptanz. 79 Prozent der Frauen und 85 Prozent der Männer sind mit der Arbeit im Homeoffice zufrieden. Die Mitarbeiter:innen bei der Fiducia & GAD sehen das auf Basis des letzten Pulse Checks ähnlich positiv. Sie schätzen unter anderem die Zeitersparnis durch den Wegfall des Pendelns, die höhere Zufriedenheit, ihre höhere Arbeitsproduktivität – und natürlich die bessere Work-Life-Balance.

Das Fenster für New Work ist weit offen

Wird Remote-Arbeit daher zum neuen Normal? Es sieht so aus. In vielen Unternehmen denkt man darüber nach, aus der Not des Social Distancings eine Tugend des New Works zu machen. Knapp über die Hälfte (54 Prozent) der Unternehmen in Deutschland wollen laut einer aktuellen Studie des IFO-Instituts Homeoffice dauerhaft stärker etablieren – laut einer Gartner-Studie sind die Zahlen international sogar noch deutlich höher.

Das wundert mich nicht. Für viele Unternehmen ging die Umstellung in der Frühphase der Pandemie mit beträchtlichen Investitionen in digitale Infrastruktur einher. Das soll sich jetzt auszahlen. Immer mehr Unternehmen erklären das mobile Arbeiten zum Standard. So hat beispielsweise Siemens das Remote-Arbeiten unter großem PR-Tam-Tam zur „neue Normalität“ erklärt. Künftig dürfen 140.000 Mitarbeiter bis zu drei Tage in der Woche von zu Hause arbeiten. Viele Unternehmen, verfallen dem Homeoffice-Hype – und schielen dabei aber vor allem auf Einsparungen im Bereich der Arbeitsflächen und Energiekosten.

Das Fenster für ein neues, viel radikaleres Verständnis von selbstorganisierter Arbeit ist weit offen. Das Einsparen von Klorollen kann nicht der Maßstab sein, an dem wir den Aufbau einer neuen Arbeitsorganisation ausrichten. Es geht um die Sicherstellung des Engagements und der Produktivität unserer Mitarbeiter:innen und wie sie Arbeit und Freizeit in einer hybriden Arbeitswelt verbinden. Die Kehrseite dieser Arbeitsform: Viele Mitarbeiter:innen berichten von Problemen, dass ihnen der persönliche Kontakt zu den Kolleg:innen fehle. Sie klagen über fehlende Pausen, über Ablenkungen durch suboptimale Arbeitsplatzbedingungen zu Hause und die fehlende Trennung zwischen Arbeit und Privatleben im Homeoffice. Frau Professor Rump untersucht gerade in diesem Zusammenhang die Auswirkungen der sogenannte „Zoom-Fatigue“. Die Schere zwischen Vor- und Nachteilen geht auseinander – das müssen wir ernst nehmen.

Hybride Arbeitsmodelle planen

Aus meiner Sicht wird unsere zukünftige Arbeitswelt eine hybride Arbeitswelt sein und wir sollten sie „Ende zu Ende“ denken. Es braucht angepasste Rahmenbedingungen und ein neues Mindset für hybrides Arbeiten in den Unternehmen. Es ist einiges zu tun um den Mix zwischen Remote- und Onsite-Arbeit flexibel und zuverlässig zum Normalzustand machen. Wie soll hybrides Arbeiten eigentlich aussehen? Die Liste der Fragen ist lang. Dazu kommen steuerrechtliche, arbeitsrechtliche und betriebliche Fragestellungen (Arbeitsstätten, Dienstwagen, Haftung und so weiter). Führungs- und Teamarbeitsmodelle sind in Richtung von mehr Eigenverantwortung und Selbstorganisation anzupassen. Der digitale Arbeitsplatz ändert sich. Die physischen Arbeitsplätze wandeln sich zu Interaktions- und Teamarbeitsplätzen für kreative, Kultur- und Strategiearbeit und mehr Desksharing.

Sicher, dabei entsteht mittelfristig eine Senkung der Infrastrukturkosten. Aber sollten wir die nicht in funktionale Heim-Arbeitsplätze investieren? Auch für das Recruiting ergeben sich plötzlich ganz neue Fragen. Theoretisch können wir jetzt auch Menschen fernab von unseren Standorten einstellen – eine Riesenchance, um auch Menschen aus entlegenen Standorten und dem Ausland in virtuelle Teams zu integrieren. Wie fühlt sich das aber an, wenn sie nur zu Sozialterminen in das Unternehmen kommen, und sonst von zu Hause arbeiten? Und die Gesundheits- und Qualifizierungsangebote für Mitarbeiter:innen sind noch mehr zu virtualisieren. Das alles zieht ein enormes Umdenken nach sich auch was Führungsverhalten, Vertrauen und Ergebnisorientierung anbelangt. Das Ganze muss durchdacht sein bis zu den Konsequenzen und es braucht ein Redesign der Guidance, der Infrastruktur und des Mindset. Es ist ein Aufbruch in eine völlig neue Welt des Arbeitens – the Great Reset.

Die Mischung macht‘s

Genau daran arbeiten wir gerade intensiv und obwohl wir lange Erfahrung mit Remote-Work haben, erweisen sich die Herausforderungen in dieser Grundsätzlichkeit alles andere als trivial. Wir müssen ganzheitlicher denken. Eins ist sicher: Es kann kein Entweder-Oder geben – also ein Nur-Zuhause oder Nur-im-Büro. Es wird hybride Lösungen geben. Es ist die Chance für Unternehmen, die Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter:innen und Teams zur Organisation ihrer Arbeit zu stärken. Ein fester Arbeitsplatz für Mitarbeiter:innen, die auch remote arbeiten ist inhaltlich/wirtschaftlich nicht sinnvoll. Der informelle und persönliche Austausch – etwa in der Kaffeepause oder beim Mittagessen – ist wichtig und kulturprägend.

Ich genieße die Tage im Homeoffice sehr – auch wenn ich hin und wieder mal durch das Klingeln des Postboten aus meiner Arbeit aufgeschreckt werde. Aber selbst die besten Zoom-, Teams- oder Webex-Meetings können das persönliche Gespräch niemals ersetzen. Remote Work und Homeoffice ist eine tolle Erweiterung unserer Arbeitswelt. Aber ehrlich gesagt: Die Mischung macht‘s.

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Jörg Staff, Chief People Officer bei Atruvia

Jörg Staff

Jörg Staff ist Mitglied des Vorstands und Chief People Officer bei Atruvia (früher Fiducia & GAD) sowie Aufsichtsrat, Beirat und Investor von (Tech-)Start-ups. Er arbeitete vor dieser Position über 20 Jahre als Mitglied von Global Executive Leadership Teams direkt für CEOs und Vorstände führender globaler Unternehmen in der IT- Industrie (SAP, Debis Systemhaus), Logistik (Deutsche Post/DHL) und der Automobilindustrie (Daimler). In seinen globalen Positionen verantwortete er unternehmensweite Strategie-/Transformationsprogramme, Restrukturierungs- und Effizienzprogramme und unterstützte diverse Wachstumsinitiativen. Darüber hinaus sind Schwerpunkte seiner Arbeit People-Themen, wie die Ausrichtung der Unternehmensorganisation auf Human Experience, die Einführung agiler Zusammenarbeitsmodelle und die Stärkung der Innovationkraft. Staff absolvierte ein Studium der Betriebswirtschaft und einen Master of Business Administration (MBA). Über 30.000 Leserinnen und Leser haben bisher seine Kolumne Logbuch einer Transformation gelesen, die 2019/2020 monatlich auf humanresourcesmanager.de erschienen ist. 2021 ist er zum CHRO of the Year gewählt worden.

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