Ich will hier rein

The Big Shift

Über einen unserer Ex-Kanzler hält sich hartnäckig eine Legende: Als junger Juso-Vorsitzender soll er in reichlich angetrunkenem Zustand am Zaun des Kanzler-Amts gerüttelt und gebrüllt haben: „Ich will hier rein.“ Als ich diesen Beitrag vorbereitet habe, musste ich oft an diese Anekdote denken. Was sagt ein Werkszaun eigentlich noch über die Grenzen einer Organisation aus? Was muss man tun, damit Menschen unbedingt hier rein wollen? Und muss man heute eigentlich überhaupt noch physisch irgendwo rein, um in einer (virtuellen) Organisation erfolgreich arbeiten zu können?

Unternehmen sind inzwischen zu vielschichtigen Plattformen für Menschen geworden. Der Schreibtisch, das Büro, das Gebäude – all das reicht inzwischen längst nicht mehr aus, um zu beschreiben, was ein Unternehmen heute ausmacht. Wir leben im Zeitalter von the Big Shift: Viele Dinge befinden sich parallel in einem dramatischen Umbruch und auch unsere Vorstellungen von Unternehmen und Organisationen stehen auf dem Prüfstand. Was macht eine moderne Organisation eigentlich aus und wie können wir sie angesichts eines dramatischen Organizational Shifts in Zukunft überhaupt noch steuern?

Umbau der Organisationen

Die Antwort auf die erste Frage ist ziemlich einfach: Es sind nicht die Gebäude, Büros und Einrichtungen, um die es geht. Es sind die Menschen und ihre lebenden Netzwerke, die eine Organisation ausmachen. Die Art wie sie zusammenarbeiten, wie sie Probleme lösen und Neues schaffen bestimmt den Grad der Modernität. Die zweite Frage ist schon deutlich schwieriger. Heute müssen wir flexible Organisationsformen schaffen für ein digitales und hybrides Zeitalter, das sich fundamental vom industriellen Zeitalter unterscheidet. Hier sehe ich vor allem drei Treiber des Umbaus. Wir müssen

  • Die Kraft der Selbstorganisation und Empowerment stärken
  • Die Arbeit in vernetzten, crossfunktionalen Teams fördern
  • Die Voraussetzung für ein flexibles, anpassungsfähiges Organisationsdesign mit starkem Kundenfokus schaffen

Diese Transformation brachte für unsere Organisation tiefgreifende Veränderungen mit sich. Historisch gewachsene Prozesse und Strukturen mussten aufgebrochen und auf die Kund:innen ganzheitlich ausgerichtet werden. Vor gut einem Jahr haben wir die gesamte Organisation umgestellt. Die Ergebnisse sind beeindruckend. Statt einer funktionalen Linienhierarchie prägt nun ein neues crossfunktionales Zusammenarbeitsmodell unsere Arbeit – mit flachen Hierarchien, eigenverantwortlichen Teams und neuen Rollen. Statt die Kompetenzen in Silos zu sammeln, haben wir End-to-end-Verantwortungen etabliert. Die Service-Feld-Leads überschauen dabei jeweils einen Gesamt-Prozess, der zur Erfüllung eines konkreten Kundenbedürfnisses führt.

Zäune einreißen

Wir haben autonome Teams mit klar definierten Zielen etabliert. Unsere Mitarbeiter:innen arbeiten in multidisziplinären, selbst-organisierten Tribes und Squads zusammen. Sie verfolgen gemeinsam ein klar definiertes Ziel (zum Beispiel Geschäftsentscheidungen hinsichtlich Produktentwicklung, Kundenzufriedenheit und Qualität). Diese selbstorganisierten Teams haben weitgehende Autonomie in der Entscheidung, wie sie ihr Ziel erreichen wollen. Dabei hat jede:r das Recht, Entscheidungen zu treffen, aber auch die Pflicht, Verantwortung innerhalb des Teams und als Teil der Gesamtorganisation zu übernehmen.

Unternehmen von heute benötigen ein derart hohes Maß an Flexibilität, um kundenzentriert zu agieren und den stetigen Wandel des Umfelds zu antizipieren. Dafür reicht eine neue Organisationsstruktur aber allein nicht aus. Die Vernetzung von Teams in einer flexiblen Organisation erfordert vielmehr die Beachtung mehrerer kritischer Rahmenbedingungen für das Organisationsdesign. Um dies zu erreichen, haben wir an vielen Stellschrauben gedreht. Wir mussten die methodischen Skills und ein gemeinsames Wertesystem aufbauen und wir mussten eine konsequentere Zielorientierung und konsequenteren Methodeneinsatz einfordern. Wir haben trotz aller individuellen Entscheidungsfreiheit auch gesehen, dass wir einen enger getakteten Abstimmungsmechanismus benötigen – einen gemeinsamen Unternehmenstakt. Die Mitarbeiter entscheiden dabei mit, welche Objective-Key-Results (OKR) sie verantworten wollen – diese Ziele werden einmal im Quartal reflektiert und gegebenenfalls adjustiert.

Sie sehen: Wir haben nicht bloß ein bisschen am Werkszaun gerüttelt. Wir haben ganze Zäune komplett eingerissen. Aber das Einreißen allein reicht nicht: Es braucht Respekt, Kultur, Sinn, um eine moderne Organisation zu schaffen, von der immer mehr Talente und Millenials sagen: Da will ich rein!

Auch aus dieser Kolumne:The End of HR as We Know It

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Jörg Staff, Chief People Officer bei Atruvia

Jörg Staff

Jörg Staff ist Mitglied des Vorstands und Chief People Officer bei Atruvia (früher Fiducia & GAD) sowie Aufsichtsrat, Beirat und Investor von (Tech-)Start-ups. Er arbeitete vor dieser Position über 20 Jahre als Mitglied von Global Executive Leadership Teams direkt für CEOs und Vorstände führender globaler Unternehmen in der IT- Industrie (SAP, Debis Systemhaus), Logistik (Deutsche Post/DHL) und der Automobilindustrie (Daimler). In seinen globalen Positionen verantwortete er unternehmensweite Strategie-/Transformationsprogramme, Restrukturierungs- und Effizienzprogramme und unterstützte diverse Wachstumsinitiativen. Darüber hinaus sind Schwerpunkte seiner Arbeit People-Themen, wie die Ausrichtung der Unternehmensorganisation auf Human Experience, die Einführung agiler Zusammenarbeitsmodelle und die Stärkung der Innovationkraft. Staff absolvierte ein Studium der Betriebswirtschaft und einen Master of Business Administration (MBA). Über 30.000 Leserinnen und Leser haben bisher seine Kolumne Logbuch einer Transformation gelesen, die 2019/2020 monatlich auf humanresourcesmanager.de erschienen ist. 2021 ist er zum CHRO of the Year gewählt worden.

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