7 Gedanken zur Angst in der Krise

Personalmanagement

1. Angst ist niemals rational

Jedes Jahr sterben sieben Menschen an Spinnenbissen und acht Millionen an den Folgen des Rauchens. Dennoch haben mehr Menschen Angst vor Spinnen als vor dem Rauchen. Wie kann das sein? In Kürze: Angst ist niemals rational. Wir überschätzen die einen Ängste und unterschätzen die anderen. Obwohl jeder weiß, dass es gefährlich ist, beim Autofahren aufs Handy zu gucken, ist genau das die Ursache jedes vierten tödlichen Unfalls.

2. Angst ist ansteckend

Angst ist erlernt. Wir übernehmen sie von anderen Menschen in unserem Umfeld. Dieser Schutzmechanismus sicherte unseren Vorfahren das Überleben. Seit Monaten sehen wir in den Medien Bilder von Menschen in Schutzanzügen und von Leichen, die in Kühlhäusern gestapelt werden. Die Gefahr ist zwar real. Aber dadurch, dass wir unsere Wahrnehmung fast ausschließlich auf das Virus richten, übersehen wir andere Risiken, die es bereits gab oder erst durch den Lockdown entstanden sind: Bewohner in Altersheimen starben an Einsamkeit, viele Menschen bewegten sich zu wenig mit entsprechenden gesundheitlichen Folgen wie Diabetes. Es ist zu erwarten, dass die Suizidrate stark steigen wird, wie es immer der Fall ist bei wirtschaftlichen Krisen. Auch hat die häusliche Gewalt nachgewiesenermaßen zugenommen. Ein einseitiger Fokus verzerrt unsere Risikoeinschätzung. Als das in tropischen Gebieten verbreitete West-Nil-Virus bekannt wurde, war die Angst vor einer Ansteckung groß. Dabei wurden andere Risiken in warmen Ländern unterschätzt: die Gefahr an Hautkrebs zu erkranken oder einer Lebensmittelvergiftung zu erliegen.

3. Urängste versus erlernte Ängste

Wenn man einem kleinen Affen ein Video vorspielt, in dem sich ein anderer Affe vor einer Schlange ängstigt, dann bekommt der kleine Affe ebenfalls Angst vor Schlangen. Zeigt man dem kleinen Affen hingegen ein Video, in dem ein anderer Affe Angst vor einer Blume hat, dann übernimmt er diese Angst nicht. Warum? Es gibt Urängste, die in unserem Gehirn bereits angelegt sind und die durch soziales Lernen aktiviert werden. Die Angst vor einem ansteckenden Virus gehört dazu.

4. Langfristig zu kurz ­gedacht

Wir sind evolutionär darauf programmiert, Angst vor Ereignissen zu haben, bei denen viele Menschen auf einmal sterben könnten. Wir haben weniger Angst vor Gefahren, bei denen ebenso viele Menschen oder mehr sterben, wenn das über einen längeren Zeitraum geschieht. So fürchten Menschen einen Flugzeugabsturz mehr als einen Unfall im Straßenverkehr, wenngleich im vergangenen Jahr weltweit „nur“ 287 Menschen bei einem Flugunglück ums Leben kamen, im Vergleich dazu weltweit aber jährlich 1,35 Millionen Menschen im Straßenverkehr. Deswegen macht uns ein neues Virus mehr Angst als eine ständige Gefahr wie die Luftverschmutzung, durch die jährlich acht Millionen Menschen ihr Leben verlieren. Es handelt sich bei dieser verzerrten Wahrnehmung um den sogenannten Hyperbolic Discounting Bias: Demnach neigt das menschliche Gehirn dazu, sich auf kurzfristige und unmittelbare Gefahren zu konzentrieren, wie zum Beispiel auf eine möglicherweise giftige Spinne oder ein neues Virus, und langfristige und komplexe Gefahren auszublenden, wie zum Beispiel die Folgen des Rauchens.

5. Die Angst vor dem Neuen

Eine andere Wahrnehmungsverzerrung ist der Novelty Bias, die Angst vor dem Neuen: Jedes Jahr sterben laut WHO 2,3 Millionen Menschen durch ärztliche Kunstfehler. Und doch haben Menschen erst seit dem Coronavirus Angst, ins Krankenhaus zu gehen und sich dort anzustecken. Warum? Weil das Virus neu ist. Unser Gehirn verarbeitet unbekannte Reize stärker. Ein neuer Pilz könnte giftig sein, der neue Kollege könnte einem übel mitspielen wollen. Neue Reize aktivieren das Dopaminsystem im Gehirn und werden dann bevorzugt verarbeitet. Deswegen müssen auch ständig medial „News“ produziert werden. Das Virus vom letzten Jahr interessiert dann niemanden mehr.

6. Unser Steinzeitgehirn in der Gegenwart

Nun könnte man sagen: Die Natur hat das klug eingerichtet, denn diese Mechanismen schützen unser Überleben und sind sinnvoll. Unser Gehirn hat sich seit der Steinzeit allerdings nicht großartig verändert, es ist immer noch für die Risiken der Steinzeit optimiert, obwohl wir in einer völlig anderen Welt leben. Deswegen fällt es uns auch so schwer, mit den Risiken einer vernetzten und globalen Welt kompetent umzugehen. Ein Beispiel: Im Jahr nach den Anschlägen des 11. September in New York gab es in den USA 1.600 mehr Verkehrstote als normalerweise. Warum? Die Menschen hatten Angst vor dem Fliegen und nutzten das Auto deswegen für längere Strecken. Sie überschätzten das Risiko des Fliegens und unterschätzten das Risiko einer Autofahrt. Wie lange müssen Sie Auto fahren, um das Todesrisiko eines Flugs von New York nach Washington zu erreichen? 19 Kilometer. Das entspricht in vielen Fällen in etwa dem Weg von zu Hause zum Flughafen. Menschen, die Angst haben, bringen sich dadurch oft erst in Gefahr.

7. Risiken ins Verhältnis setzen

Menschen in Angst entwickeln einen Tunnelblick. Das Frontalhirn, das für das logische Denken zuständig ist, schaltet sich aus. Wir gehen stattdessen in einen Bedrohungsmodus. Emotionen steuern dann unser Handeln. Was können wir tun, um Risiken besser einzuschätzen? Es hilft, wenn wir die Zahlen nicht isoliert betrachten, sondern ins Verhältnis setzen. Weltweit sind bisher etwa eine halbe Million Menschen im Zusammenhang mit Sars-Cov-2 gestorben. Ob das viel oder wenig ist, versteht man nur, wenn man diese Zahl mit anderen Risiken vergleicht: 18 Millionen Menschen sterben jedes Jahr an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zehn Millionen Menschen sterben jedes Jahr an Krebs. Eine halbe Milliarde Menschen könnte durch die Wirtschaftskrise in die Armut abrutschen. Hundertausende Kinder werden noch dieses Jahr an Hunger sterben. Sind Sie schon einmal auf einen Stuhl geklettert, um eine Spinne einzufangen? Ich bekenne mich schuldig! Jedes Jahr sterben 646.000 Menschen durch Stürze. Viele davon zu Hause.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Routine. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Friederike Fabritius, Neurowissenschaftlerin

Friederike Fabritius

Die Neurowissenschaftlerin Friederike Fabritius hat beim Max-Planck-Institut für Hirnforschung gearbeitet und war bei McKinsey im Management Consulting tätig. Die Speakerin ist Lead-Autorin des Buchs „Neurohacks - gehirngerecht und glücklicher arbeiten“.

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