Neues vom EuGH: Wann Bereitschaftszeit zu Arbeitszeit wird

Arbeitsrecht

Spätestens seitdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Mai 2019 entschieden hat, dass künftig jeder Arbeitgeber die Arbeitszeiten seiner Mitarbeiter vollständig erfassen muss, ist sein Einfluss auf das deutsche Arbeitsrecht nicht mehr zu übersehen. Am 9. März 2021 hat sich das Gericht mit zwei weiteren Urteilen zu der Frage geäußert, wann Bereitschaftszeiten als Arbeitszeit zu qualifizieren sind. Diese Einordnung ist keinesfalls theoretischer Natur, sondern kann handfeste Auswirkungen haben: Welche Vergütung ist für Zeiten, in denen sich Arbeitnehmer zur Arbeit bereithalten müssen, zu zahlen? Wie lange dürfen Bereitschaftsdienste sein? Und müssen sie künftig ebenfalls umfassend dokumentiert werden? Zu all diesen Fragen äußert sich der Gerichtshof nicht unmittelbar, stellt aber Kriterien auf, die künftig bei der Beantwortung zu berücksichtigen sind.

Auslöser: Streit um Höhe der Vergütung von Bereitschaftszeiten

Die jüngst ergangenen Entscheidungen gehen zurück auf die Klagen eines deutschen Feuerwehrmanns sowie eines slowenischen Technikers. Beide fordern vor den nationalen Gerichten von ihrem Arbeitgeber die Zahlung der vollen Vergütung auch für solche Zeiten, in denen sie zwar nicht arbeiten, aber stets erreichbar und gegebenenfalls schnell zum Arbeitsplatz gelangen müssen. Der Feuerwehrmann ist zum Beispiel verpflichtet, innerhalb von 20 Minuten nach Alarmierung jeden Ort im Stadtgebiet mit dem Einsatzfahrzeug und bereits in voller Dienstmontur erreichen zu können. Ein konkreter Aufenthaltsort wird ihm aber nicht vorgeschrieben. Beide Gerichte setzten die Verfahren aus und wollten vom EuGH wissen, unter welchen Umständen derlei Bereitschaftszeiten als Arbeitszeit im Sinne der europäischen Arbeitszeitrichtlinie zu werten sind.

EuGH stellt auf Möglichkeit der Freizeitgestaltung ab

Der Gerichtshof stellt in seinen Urteilen nun zunächst klar, dass es rein rechtlich nur die Kategorien „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ gibt – unabhängig davon, dass viele Menschen Bereitschaftszeiten als eine Kombination aus beidem empfinden. Anknüpfend an seine bisherige Rechtsprechung führt der Gerichtshof weiter aus, dass Arbeitszeit immer dann vorliegt, wenn der Arbeitnehmer in der freien Gestaltung der Bereitschaftszeit „ganz erheblich beeinträchtigt“ ist. Derlei Einschränkungen können sich aus den geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen, aber auch aus den Vorgaben des Arbeitgebers beziehungsweise dem Arbeitsvertrag ergeben. Sonstige organisatorische Schwierigkeiten, die sich zum Beispiel aus vom Arbeitnehmer eigenständig getroffenen Entscheidungen ergeben, sind dagegen nicht zu berücksichtigen. Daher bleibt insbesondere die Entfernung von Einsatz- und Wohnort grundsätzlich außer Betracht. Wichtiger Indikator für das Vorliegen von Arbeitszeit kann aber die Häufigkeit von Einsätzen sein sowie die Frist, innerhalb derer die Arbeit aufgenommen werden muss.

EuGH-Vorgaben sind dem deutschen Recht nicht fremd

Insgesamt führt der EuGH mit den neuen Urteilen seine bisherige Rechtsprechung konsequent fort. So hatte er bereits 2018 entschieden, dass eine Einsatzfrist von acht Minuten dazu führt, dass entsprechende Bereitschaftszeiten als Arbeitszeit zu werten sind. Die deutschen (Arbeits-)Gerichte liegen übrigens bereits weitgehend auf der Linie des EuGH, auch wenn die vielen unterschiedlichen Begrifflichkeiten manchmal einen anderen Eindruck erwecken. Zwar ist ihm die pauschale Unterscheidung zwischenBereitschaftsdienst, der durch einen vorgegebenen Aufenthaltsort gekennzeichnet ist (= Arbeitszeit), und Rufbereitschaft, bei der der Aufenthaltsort frei gewählt werden kann (= keine Arbeitszeit), fremd. Jedoch ist auch das Bundesarbeitsgericht der Auffassung, dass Rufbereitschaft nicht mehr vorliegt, wenn der Arbeitnehmer praktisch keine andere Möglichkeit hat, als sich in der Nähe des Einsatzortes aufzuhalten.

Arbeitszeit ist streng reglementiert und muss aufgezeichnet werden

Soweit die jeweilige Bereitschaftszeit als „Arbeitszeit“ zu bewerten ist, hat dies zunächst zur Folge, dass die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes einzuhalten sind. Neben Regelungen zur täglichen Höchstarbeitszeit (max. 10 Stunden) finden sich darin unter anderem Vorgaben zu Pausen und Ruhezeiten. Allerdings sehen insbesondere Tarifverträge oftmals (zulässige) Abweichungen hiervon vor. Zudem ist zu erwarten, dass der Gesetzgeber in absehbarer Zeit die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung im deutschen Recht verankern wird – spätestens dann werden Arbeitgeber nicht umhinkommen, auch Bereitschaftsdienste und gegebenenfalls Rufbereitschaften umfassend zu dokumentieren.

EuGH entscheidet nicht über Vergütung von Bereitschaftszeiten

Die häufig im Zentrum von Streitigkeiten stehende Frage nach der Vergütung von Bereitschaftszeiten ist dagegen nicht Gegenstand der EuGH-Entscheidungen, denn dieser Aspekt ist nicht von der Regelungskompetenz der Europäischen Union umfasst. Daher gilt weiterhin, dass Bereitschaftsdienste zwar durchaus zu vergüten sind. Die Höhe der Entlohnung darf allerdings – soweit das Mindestlohngesetz beachtet und der Arbeitnehmer nicht tatsächlich zur Arbeit herangezogen wird – unterhalb derjenigen von „normaler“ Arbeitszeit liegen. In ähnlicher Weise muss Rufbereitschaft angemessen vergütet werden, jedoch unabhängig vom aktuell geltenden Mindestlohn.

Bewertung als Arbeitszeit einzelfallabhängig

Die neuen Urteile des EuGH erfordern daher keine grundsätzliche Neubewertung von Bereitschaftszeiten. Vielmehr präzisieren sie die Kriterien, die bei der Entscheidung zwischen Arbeits- und Ruhezeit heranzuziehen sind und können so für eine europaweit einheitlichere Rechtsprechung sorgen. Allerdings betont der Gerichtshof zutreffend, dass es immer Sache des nationalen Gerichts ist, anhand aller Umstände des Einzelfalls eine Einordnung vorzunehmen. Man wird daher wohl allenfalls bei sehr kurzen, nur wenige Minuten betragenden Fristen zur Arbeitsaufnahme etwaige Gerichtsentscheidungen zuverlässig vorhersagen können.

Anmerkung der Autorinnen: Gemeint sind stets Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird bei allen Bezeichnungen nur die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Kira Falter, Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kira Falter

Kira Falter ist Partnerin und Rechtsanwältin bei der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS Deutschland. Sie berät nationale und internationale Unternehmen im Individual- und Kollektivarbeitsrecht.
Paula Wernecke, Rechtsanwältin bei CMS

Paula Wernecke

Paula Wernecke ist Rechtsanwältin bei der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS Deutschland. Ihr Tätigkeitsschwerpunkt liegt im Arbeitsrecht.

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