Totgesagte leben länger

Leadership

Das Konzept der Matrixorganisation ist in großen Unternehmen weit verbreitet, obwohl die Nachteile mehrdimensionaler Führung hinlänglich bekannt sind. Der schnelle Wandel vieler Geschäftsmodelle infolge der Digitalisierung stellt das Modell einmal mehr in Frage – bislang mit offenem Ausgang.

Für Daimler-Chef Dieter Zetsche ist die Sache klar: Allein mit einer Matrixorganisation ist der Premium-Autobauer den aktuellen Herausforderungen nicht gewachsen. Neue Konkurrenten wie Google und Apple greifen die etablierten Autokonzerne an, seit sie am autonomen Fahren tüfteln. Und der Elektroauto-Vorreiter Tesla nötigt den etablierten Autoherstellern in immer mehr Märkten auch Marktanteile im margenträchtigen Luxussegment ab. Mit der Innovationskraft und Kreativität der US-Konzerne müssen europäische Autobauer mithalten, mehr noch: Sie müssen besser sein, nichts weniger ist Zetsches Anspruch. Deshalb bringt der Chef des deutschen Premiumherstellers die eigene Unternehmensorganisation auf Vordermann: Innerhalb der nächsten sechs bis zwölf Monate soll rund jeder fünfte Mitarbeiter in einer Schwarmorganisation eingebunden werden und jenseits der klassischen Matrixorganisation deutlich stärker vernetzt arbeiten als bislang, zudem will der Konzernchef die Führungskultur in den kommenden Jahren um- und Hierarchien abbauen.

Unterschiedliche Strukturen nebeneinander

Das Arbeiten in Projekten, stärkere Vernetzung von Mitarbeitern, das Schielen auf Startup ähnliche Strukturen in immer mehr Konzernen – die Organisation der deutschen Großunternehmen ist einmal mehr im Wandel. Das Ende der gleichermaßen erfolgreichen wie kritisch diskutierten Matrixorganisation sehen Experten aber nicht kommen, ganz im Gegenteil: „Fast alle Dax-Unternehmen und großen Mittelständler arbeiten mit Matrixorganisationen“, sagt Dieter Kern, der bei der Beratung Mercer für die Themen Leadership und Organizational Performance verantwortlich ist. „Neu ist, dass es weitere, anders strukturierte Organisationsformen innerhalb eines Unternehmens gibt. Dieses Nebeneinander dauerhaft zuzulassen und produktiv zu nutzen ist die Herausforderung.“ Auch Change-Management-Guru John Kotter von der Harvard Business School hält zwei Betriebssysteme innerhalb eines Unternehmens für den richtigen Weg. Das eine – die Hierarchie – soll für Stabilität, das andere – das Netzwerk – für Agilität sorgen.

Treiber des Wandels ist wie so oft die Digitalisierung und die damit einhergehenden Veränderungen in der industriellen Produktion, ebenso im Handel und Dienstleistungssektor: Sie stellt Geschäftsmodelle auf den Kopf und ruft ähnlich wie bei den Autoherstellern völlig neue Wettbewerber auf den Plan.

Das hat Konsequenzen von großer Tragweite für Unternehmen. „Sie müssen in immer mehr Bereichen schnell agieren können und vor allem auch bereit sein, neue Wege zu gehen“, sagt Berater Dieter Kern. „Dafür ist es wichtig, auch andere Organisationsformen zu etablieren oder erst einmal mit ihnen zu experimentieren, wie etwa das Arbeiten im Schwarm.“ Dass künftig alle Menschen in solchen neuen Strukturen beschäftigt sein könnten, glaubt der Experte dennoch nicht: „Es macht überhaupt keinen Sinn, hoch effiziente und standardisierte Fertigungen oder Serviceleistungen im Schwarm zu organisieren. Klassische Aufgaben werden auch in Zukunft in traditionellen Organisationsformen mit klaren Zuständigkeiten und Hierarchien erledigt“, sagt Kern. Firmen wie Google und Facebook machen zwar vor, dass auch große Konzerne wie Startups funktionieren können – sie müssen aber auch keine klassische industrielle Produktion organisieren. Apple besteht vorwiegend aus Entwicklung und Marketing – und lässt aus guten Gründen andere Firmen ihre Produkte herstellen. „Jedes Unternehmen muss für sich die passende Organisation finden, das kann man nicht pauschalisieren“, sagt Kern. Die Matrix wird deshalb in Zukunft noch stärker als bislang nur eine von verschiedenen möglichen Organisationsformen sein. „Eine Matrixorganisation funktioniert gut, wenn die Beschäftigten bereits in hohem Maß eigenverantwortlich und zielorientiert arbeiten, einander vertrauen und rein hierarchische Führung weniger Bedeutung hat“, sagt Kern. „Solche Menschen kommen auch einfacher mit wenig übersichtlichen Strukturen klar.

Unternehmen, die eine dementsprechend gut funktionierende Matrix haben, haben es in der Regel einfacher, weitere Dimensionen oder gänzlich andere Organisationsformen wie Projekte, Arbeiten in Netzwerken oder im Schwarm zu integrieren.“

Fürs HR-Management heißt das: Die richtigen Mitarbeiter zu finden, die mit Vertrauensarbeit und einem gewissen Grad von Unsicherheit und wenig Regularien in ihrem Job auskommen. Das wird für den Erfolg des Unternehmens immer wichtiger. „Das gilt zumindest für die Beschäftigten, die in mehrdimensionalen Strukturen arbeiten. Es wird analog zu diesen klassisch organisierten Unternehmensbereichen auch Arbeitsplätze geben, in denen Mitarbeiter klar strukturierte Vorgaben bekommen. Personaler müssen in Zukunft differenzieren, welche Anforderungsprofile ein Mitarbeiter in Bezug auf selbständiges Arbeiten erfüllen muss.“

Solche Überlegungen standen am Anfang der Matrixorganisation freilich nicht im Mittelpunkt. Mitte des vergangenen Jahrhunderts fingen immer mehr Unternehmen in den Industrienationen an, sich zu internationalisieren, Produkte zu exportieren, im Ausland zu fertigen. Die klassische Unternehmensgliederung mit rein fachlichen begründeten Strukturen war damit häufig überfordert, weil sie nur unzureichend in der Lage war, auf länderspezifische Umstände zu reagieren. Also begannen Firmen, Divisionen für einzelne Märkte aufzubauen, meist sind die Unternehmen nach zwei gleichberechtigten Kriterien gegliedert, etwa einerseits nach Funktionen wie Beschaffung, Produktion und Absatz, und andererseits nach Objekten wie eben bestimmten Märkten in einzelnen Ländern. Der Vorteil: Unternehmen können in einzelnen Regionen in aller Welt etwa bei Absatzschwankungen schnell reagieren, gleichzeitig können wichtige Bereiche wie etwa Forschung und Entwicklung zentral gesteuert werden.

Entscheidungsprozesse sind oft nicht klar

Häufig ist jedoch nicht klar abzugrenzen, wer welche Entscheidungen trifft. Wenn Produkt X in Land Y eingeführt oder vom Markt genommen, produziert oder verändert werden soll, wer soll und darf das entscheiden? Der Länder- oder der Produktionschef? Fragen wie diese lassen sich beliebig fortsetzen, das Problem bei der Matrix ist immer das gleiche: Die klare Regelung von Zuständigkeiten ist kaum möglich. „Die Matrix ist in der Praxis viel zu oft ein Papiertiger“, kritisiert Organisationsberater Wolfgang Saaman. Theoretisch sei in den Unternehmen meist durchaus geregelt, wer in welchem Fall für welche Entscheidung zuständig ist und wie sich gleichberechtigte Leiter aus verschiedenen Dimensionen der Matrix einig werden sollen: Durch Verhandeln etwa, oder indem man Kompromisse findet. „Tatsächlich ist ein solches Prozedere zeitraubend und dauert zu lange, außerdem verlangt es von den Beteiligten ein hohes Maß an Kooperationswillen. In der Praxis setzt sich deshalb häufig derjenige durch, der die stärkere Persönlichkeit hat“, betont Saaman. Oder derjenige, der gerade mehr unter Druck steht, gibt schlicht nach.

Zum Beispiel fügt sich dann ein Werksleiter dem Spardiktat des Einkäufers – wohl wissend, dass das bestellte Material nicht die benötigte Qualität hat. Die Crux dabei fürs Unternehmen: Wenn die im Werk hergestellten Produkte später ebenfalls nicht die gewünschte Qualität haben, können beide sich gegenseitig den schwarzen Peter zuschieben. „Erfolg lässt sich noch verhältnismäßig gut teilen“, ergänzt Fabian Billing, Leiter Organization Practice bei der Strategieberatung McKinsey. „Aber spätestens wenn es Probleme gibt, funktioniert eine geteilte Verantwortlichkeit oftmals nicht mehr.“ Das Problem besteht ebenso auf Ebene der Mitarbeiter, die in Matrixstrukturen regelmäßig zwei oder noch mehr Chefs haben, die jeweils ihren Bereich verantworten – und die von den Mitarbeitern bei Problemen nicht selten gegeneinander ausgespielt werden.

Zunehmende Internationalisierung

Die Diskussion um die Matrix ist heute so aktuell wie lange nicht mehr, denn die Dimensionen von Organisationen nehmen zu. Dafür gibt es mehrere Gründe: Die weiterhin zunehmende Internationalisierung und den daraus folgenden Druck, sich auf Märkte zu spezialisieren. Hinzu kommt, dass sich die Wertschöpfung verändert, auch hier ist die Digitalisierung ganzer Geschäftsmodelle ein wesentlicher Treiber. In und zwischen Unternehmen muss häufiger als früher fachübergreifend gearbeitet werden. Wenn zum Beispiel ein Hersteller von Lastwagen-Achsen künftig auch Daten über die Belastung und Bewegung sammeln und etwa an den Lastwagenhersteller oder Spediteur verkaufen will, sind davon diverse Bereiche betroffen. „Das ist nicht einfach ein neues Produkt. Stattdessen muss das Unternehmen die Wertschöpfungskette und oft auch das Geschäftsmodell verändern “, sagt Fabian Billing. Mit jeder weiteren Dimension wächst allerdings die Gefahr, dass sich Führungskräfte Verantwortlichkeiten teilen müssen – und niemand genau weiß, nach welchen Kriterien das geschehen soll. Außerdem verstärkt sich der Trend, neben der Hauptorganisation der Matrix weitere Strukturen zu etablieren. Bereits vor den aktuellen Überlegungen etwa zu Schwarmorganisationen haben Unternehmen Projektarbeit nicht nur inner- sondern auch außerhalb der Matrix organisiert. Und der Anteil dieser Arbeitsform wächst, laut der Personalberatung Hays verbringen Mitarbeiter mittlerweile durchschnittlich 60 Prozent mehr Zeit in Projekten als noch vor wenigen Jahren.

„Die Geschwindigkeit, mit der sich Märkte verändern, nimmt stark zu, keine Frage“, sagt McKinsey-Berater Billing. „Man kann aber auch in einer Matrix dynamisch arbeiten. Die Organisation gibt dem Ganzen Stabilität, ohne einen gewissen Rahmen lässt es sich in großen Unternehmen nicht arbeiten.“ Das gilt auch, wenn der Rahmen an der einen oder anderen Stelle durchlässig wird, um weitere Organisationsformen zu etablieren.

Wolfgang Saaman sieht die Nachteile der Matrix in Zukunft hingegen noch stärker ausgeprägt. „Die real existierenden Konflikte in Matrixorganisationen können sich Unternehmen heute nicht mehr leisten. In der heutigen Zeit bekommen Unternehmen die Konsequenzen von ineffizienten Strukturen viel schneller zu spüren als früher.“ Für Saaman ist deshalb klar: „Die Matrix hat ausgedient.“ Unternehmen müssten stattdessen Organisationssysteme schaffen, in denen sich Mitarbeiter bewegen und verschiedene Rollen übernehmen können, um ihr volles Können zu entfalten. „Das Potenzial der Mitarbeiter kommt am besten zum Tragen, wenn man sie sorgfältig auswählt und dann auf ihr Können und ihre Verantwortlichkeit vertraut“, sagt Saaman. „Organisationen, in denen sich jeder absichern muss aus Angst vor Fehlverhalten, sind lähmend und das genaue Gegenteil von dem, was Unternehmen heutzutage brauchen. Matrixorganisationen sind für solches Verhalten aufgrund der institutionalisierten Konflikte besonders anfällig.“

Saaman empfiehlt deshalb sogenannte fluide Organisationssysteme ohne starre Strukturen, bei denen die Beschäftigten weitestgehend eigenverantwortlich und selbstorganisiert arbeiten. „Neue Geschäftsprozesse brauchen neue Organisationsformen, die die Agilität der Mitarbeiter fördern“, sagt der Berater. „Wichtig ist, dass es in einem solchen System klare Verantwortlichkeiten gibt, wer für welche Ergebnisse einzustehen hat. Und zwar für jeden Beschäftigten – vom einfachen Mitarbeiter bis zur Unternehmensspitze.“

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André Schmidt-Carré, Foto: copyright @ ruwan loehr

André Schmidt-Carré

Redakteur
Wortwert
André Schmidt-Carré ist Redakteur bei wortwert - die wirtschaftsredaktion. Er schreibt seit Jahren regelmäßig für den HRM.

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