Sellcruiting statt Recruiting

Recruiting

Das Arbeitskräfteangebot in Deutschland ist knapp und wird in den nächsten 10 Jahren weiter um Millionen von Menschen schrumpfen. Die Babyboomer-Generation geht in Rente und immer weniger junge Fachkräfte kommen auf den Arbeitsmarkt. Um dennoch wettbewerbsfähig zu bleiben und die richtigen Talente für das Unternehmen zu gewinnen, müssen Personalverantwortliche jetzt umdenken und neue Ansätze im Recruiting wagen.

Der harte Kampf um die Talente

Laut der DIHK-Konjunkturumfrage aus dem Herbst 2019 sehen 56 Prozent der Unternehmen im Fachkräftemangel das größte Risiko für ihre Geschäftsentwicklung. Doch nicht nur der Fachkräftemangel bereitet vielen Unternehmen Kopfzerbrechen: Das Jobangebot ist heute diverser und vielfältiger als je zuvor, der Markt schnelllebiger und Jobsuchende sind anspruchsvoller. Zusätzlich erschwert auch der Imageverlust von nicht-akademischen Jobs das Recruiting. Von einem Wettstreit der Bewerberinnen und Bewerber um den einen Arbeitsplatz kann daher kaum noch die Rede sein. Gerade in Mangelberufen wie in der Pflege oder im Handwerk haben sie die Qual der Wahl und entscheiden sich für das Unternehmen, das den eigenen Vorstellungen am besten entspricht.

Sellcruiten statt recruiten

Ein von Mangel geprägtes Bewerberfeld nimmt mehr und mehr die Unternehmen in die Pflicht, die Stelle und das Arbeitsumfeld so attraktiv wie möglich zu gestalten und sich aktiv um die wenigen geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten zu bemühen. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich die Bewerbungen wie von selbst auf den Schreibtischen der Personalabteilung stapelten. Für Personalverantwortliche heißt das: Recruiting-Verantwortliche müssen ihre Stellen verkaufen, sie müssen zu Sellcruiterinnen und Sellcruitern werden, um passende Talente zu gewinnen und Unternehmensziele zu erreichen.

Der Begriff des Sellcruiting verrät schon, dass die Ideen und Strategien des Vertriebs auch für zeitgemäßes Recruiting nützlich sein können. Moderne Recruiting-Verantwortliche sprechen deshalb nicht mehr von Bewerbungen und Jobangebot, sondern, wie auch im Vertrieb, von dem (Bewerber-)Kunden und dem (Job-)produkt. Die Zielgruppe muss verstanden und, abgestimmt auf ihre Bedürfnisse, ein gutes Job-Produkt geschaffen werden. Denn wenn das Produkt nicht gut ist, wird auch das beste Marketing dieses nicht verkaufen können oder riskiert einen Umtausch. Recruiting-Verantwortliche müssen daher die Unique Selling Points (USPs) ihres Job-Produkts klar und gut definiert haben und, wie im Vertrieb, den Job und das Unternehmen im ersten Schritt in einem knackigen Elevator-Pitch verkaufen.

In der Kürze liegt die Würze

Das beste Rezept für einen erfolgreichen Elevator-Pitch bietet das AIDA-Konzept. Diesem folgend beginnt ein guter Pitch mit einem starken Einstiegssatz oder einer provokanten Frage um Aufmerksamkeit zu erregen (Attention). Das Interesse sollte anschließend durch echte Alleinstellungsmerkmale (USPs) weiter gesteigert werden (Interest). Vermitteln Sie der (Bewerber-)Kundin anschaulich, was sie in Ihrem Unternehmen erreichen kann – das weckt Begehrlichkeiten (Desire). Am Ende des Pitches sollte eine letzte Handlung stehen: Vernetzen Sie sich oder vereinbaren Sie ein weiteres Gespräch (Action).

Die Wünsche lesen

Während eines Jobinterviews müssen Sellcruiterinnen und Sellcruiter geschickt und behutsam vorgehen, denn es gilt zu überzeugen, statt zu überreden – schließlich soll eine geeignete Kandidatin oder ein Kandidat möglichst lange im Unternehmen bleiben. Sales-Verantwortliche sprechen hier vom „Solution Selling“. Kundinnen und Kunden muss das Gefühl gegeben werden, dass nur Ihr Produkt ihnen bietet, wonach sie suchen. Um Interessierten das Gefühl zu geben, ihren Traumjob gefunden zu haben, hat sich die folgende Vorgehensweise als besonders erfolgreich herausgestellt: Im Sellcruiting sollte ein Gespräch nicht damit beginnen, die Vorzüge des eigenen Produkts anzupreisen, sondern durch gezielte Fragestellung ergründet werden, wo die Prioritäten der Kundin oder des Kunden liegen. Hier einige Beispiele:

  • Was ist Ihnen im Job besonders wichtig?
  • Wonach suchen Sie im nächsten beruflichen Schritt?
  • Was hat Ihnen im letzten Job besonders viel Freude bereitet?

Weitere geeignete Fragen lassen sich auch durch die SPIN-Methode entwickeln. SPIN steht in diesem Fall für vier verschiedene Kategorien von Fragen:

  • Situationsfragen: Bewerberinnen und Bewerber beschreiben ihren Alltag und erkennen dabei ein Bedürfnis, auf welches Sellcruiting-Verantwortliche eingehen.
  • Problem- oder Wunschfragen: Bewerberinnen und Bewerber erkennen ein Problem oder äußern ihre Wünsche in eigenen Worten.
  • Implikationsfragen: Gemeinsam mit den Bewerberinnen und Bewerbern werden Wünsche priorisiert und gemeinsam eine Lösung gefunden.
  • Need-Payoff-Fragen: Bewerberinnen und Bewerber erkennen, wie ihr Leben beziehungsweise ihr Beruf aussehen könnte, wenn ihr Wunsch realisiert wurde und kommen zu einer Entscheidung.

Geübten Sellcruiterinnen und Sellcruitern offenbart sich anhand der Art und Weise wie Jobsuchende antworten schnell, worauf es ihnen ankommt und worauf sie ansprechen. Sind es eher die „harten“, greifbaren Vorzüge eines Jobs wie Gehalt, Urlaubstage oder das Vorhandensein einer Kantine, die der Person wichtig sind? Oder sind es doch mehr die „weichen“ Vorzüge wie flache Hierarchien, ein humorvolles Team oder Gleitzeit? Anhand der Antworten können sie nun das Job-Produkt entsprechend „verkaufen”.

Mitarbeiterschaft als Markenbotschafter

Die Ideen und Strategien des Vertriebs sind auch jenseits des Jobinterviews für das Recruiting von Nutzen. Für Verbraucherinnen und Verbraucher ist es heutzutage ganz selbstverständlich ein Produkt vor dem Kauf auf Herz und Nieren zu testen – niemand kauft gerne die Katze im Sack. Letzteres gilt umso mehr für den Job – und doch bieten noch viel zu wenige Unternehmen Bewerberinnen und Bewerbern die Möglichkeit Arbeitsplatz -und Umfeld besser kennenzulernen. Dabei sind die Mittel und Wege dazu denkbar einfach: Das Angebot zur Probearbeit vor Ort oder Bürorundgänge, gespickt mit interessanten Anekdoten aus dem Arbeitsalltag, sind ein probates Mittel, um zu begeistern. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt: Selbst kurze Coffee Chats mit aktuellen Mitarbeitenden oder ein Kennenlernen am Abend schaffen Transparenz und wecken Interesse.

Die Schäfchen ins Trockene bringen

Wie oben bereits beschrieben, haben Talente immer häufiger die Qual der Wahl zwischen mehreren Jobangeboten. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Entscheidung für oder gegen einen Job. Auf Gedeih und Verderb der Gunst des Personalentscheidenden ausgesetzt zu sein gehört der Vergangenheit an, heute kommt es häufiger zu einer Einigung, wenn beide Seiten zufrieden sind. Wer in Sellcruiting geübt ist, hat jedoch die Möglichkeit, die Entscheidung zu eigenen Gunsten zu forcieren.

Je mehr Zeit nach dem Jobinterview verstreicht, desto mehr Zweifel können Kandidaten und Kandidatinnen kommen. Nutzen Sie daher jede Gelegenheit unausgesprochene Zweifel und Fragen während des persönlichen Gesprächs offenzulegen. Was sonst unter den Tisch gefallen wäre, kommt so zur Sprache und ermöglicht Ihnen, aktiv Lösungen auf drängende Fragen anzubieten. Zögern Sie zudem nicht mit Feedback: Eine Rückmeldung sollte idealerweise noch am selben Tag folgen. Fällt Ihre Entscheidung positiv aus, sollte es schnellstmöglich zur Unterschrift des Arbeitsvertrags zu kommen – entweder persönlich oder per E-sign-Software mit einer elektronischen Unterschrift.

Menschlich bleiben

Sellcruiterinnen und Sellcruiter tragen im Moment des Jobinterviews eine enorme Verantwortung: Sie verkörpern in den Augen der Job-Interessierten das gesamte Unternehmen. Bei aller Professionalität sollten sie dennoch keinen Augenblick vergessen, dass eine erfolgreiche Zusammenarbeit am Ende auf Menschlichkeit beruht. Dazu zählt auch während eines Jobinterviews durch Freundlichkeit, Offenheit, Transparenz und Authentizität das Unternehmen nahbar zu machen. Das Gehalt allein ist nicht mehr entscheidend – Benefits, die persönliche Ebene und ein Umfeld für Selbstverwirklichung sind heutzutage das Zünglein an der Waage. Deshalb bewerben sich Unternehmen durch Sellcruiting um die Jobsuchenden, nicht andersherum.

Unsere Newsletter

Abonnieren Sie die HR-Presseschau, die Personalszene oder den HRM Arbeitsmarkt und erfahren Sie als Erstes alles über die neusten HR-Themen und den HR-Arbeitsmarkt.
Newsletter abonnnieren
Marius Luther, CEO von HeyJobs

Marius Luther

Marius Luther ist CEO und Gründer von HeyJobs, einem Recruiting-Tech Unternehmen aus Berlin, das seinen über 1.500 Kunden durch Performance Marketing und selbstlernende Algorithmen hilft, offene Stellen zu besetzen. Zuvor entwickelte er – ebenfalls mit seinem jetzigen Co-Founder Marius Jeuck – die App Memorado, mit der Nutzer ihre kognitiven Fähigkeiten verbessern können. Kennengelernt haben sich beide zuvor während Luthers Zeit als CMO beim Reise-Startup Wimdu. Als Absolvent der Universität St. Gallen hat der HeyJobs-Gründer seine Karriere in frühen Jahren als Unternehmensberater  bei McKinsey & Company begonnen.

Weitere Artikel