Kreative Pausen

Personalmanagement

Viele Künstler, Erfinder, Forscher und Schriftsteller verdanken ihren Ideenreichtum gezielter Pausen. Denn eine Pause unterbricht die Routine und öffnet den Raum für Neues jenseits des Alltags. Menschen, die regelmäßig pausieren, leisten mehr.

Zu den großen Irrtümern unserer Zeit zählt es, durch Beschleunigung und Steigerung der Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit mehr Leben ins Leben bringen zu können. Erreicht wird das Gegenteil. Je schneller, desto kurzatmiger und atemloser werden wir, und umso mehr wird das Leben zu einem pausenlosen Kampf gegen die Zeitnot. Aus dem abwechslungsreichen Zeitfluss wird ein gerader, öder und monotoner Kanal. Die kleinteilige Verterminierung des Alltags hält die Menschen davon ab, den rechten Augenblick zu erwischen und die Zeit zu genießen.

Die Zeitverdichtung macht jede Pause im Internet zum Störmoment, im Straßenverkehr zu einem Ärgernis und in der Welt der Arbeit zu einem Geldverlust. Der Totalverwertung von Zeit in Geld steht die Pause im Weg. Selbst die Kommata, die kleinen Pausenzeichen, die dem Rhythmus und dem Textverständnis dienen, werden im poesiefreien Mailverkehr häufig weggelassen.

Jahrzehnte kämpften Gewerkschaften für das Recht auf Pausen während der Arbeitszeit. Seit 1994 sind sie im Arbeitszeitgesetz auch geregelt. Die Praxis aber zeigt, dass die klaren Vorgaben vielfach nicht erfüllt und nicht ernst genommen werden. Von einer lebendigen Pausenkultur kann in der Mehrzahl deutscher Unternehmen keine Rede sein, wenn die Mittagspause mit Pappbecher, Sandwich und ein paar unverdaulich fixen Algorithmen am Computer verbracht wird. Man muss sich also nicht wundern, wenn sich 86 Prozent der Angestellten, so das Ergebnis einer Krankenkassen-Studie aus dem Jahr 2016, von ihrer Arbeit gestresst fühlen.

Es ist das pausenlose Wachstumsdenken, das sich wie ein Tumor in die Zeiten des Alltags hineinfrisst und die nicht beschleunigbaren Zeitqualitäten in ihrer Existenz in einer Art bedroht, die eine Verlustanzeige rechtfertigt. Akzeptiert und toleriert werden Pausen vor allem in der paradoxen Form von Werbeunterbrechungen oder angefüllt mit Pausenprogrammen. Unverplante, ungenutzte Pausen und leere Seiten im Terminkalender werden im Zeitdruck-Alltag nur mehr toleriert, wenn sie den Verwertungsinteressen der Ökonomie zuarbeiten. Sie stehen unter Rationalisierungsdruck.

Frei ist nur, wer auch pausiert

Mit Pausenprogrammen angefüllte Pausen sind jedoch in die ökonomische Pflicht genommene Zeitformen, die den Namen „Pause“ nicht verdienen. Produktiv, kreativ sind Pausen nur, wenn sie offen, leer, ohne Programm sind. Dann werden sie zu Zeiträumen des Nach- und des Vorausdenkens, zu Spielräumen der Fantasie, der Tagträumerei, des Ab- und Umschaltens und zum Mutterboden der Innovation.

Die Pause hat eine lange und ehrwürdige Geschichte. Eine würdige Gegenwart hat sie nicht. Im götterreichen, uhrlosen antiken Griechenland waren Pausen ein wichtiger Teil der Lebensqualität. Die historischen Quellen zeigen, dass ein gewisser Aristos im Jahr 309 vor Christus für seine Musiker mehr Pausen verlangt hat und dafür sogar den ersten uns aus der Geschichte bekannten Streik riskierte. Dass auch die Römer dem Pausemachen und dem Innehalten Positives abgewinnen konnten, wissen wir von Cicero, der einen engen Zusammenhang zwischen Pausen und bürgerlicher Freiheit herstellte: „Mir scheint nämlich selbst ein freier Bürger nicht wirklich frei zu sein, der nicht irgendwann auch einmal einfach nichts tut.“

Viele Künstler, Erfinder, Forscher und Schriftsteller erzählen von Geistesblitzen, Ideen und Eingebungen, die sie Pausen verdanken. Der französische Mathematiker Henri Poincaré gehört dazu: „Es geschieht oft, dass man an einer schwierigen Aufgabe sitzt und beim ersten Anlauf nichts Lohnendes herausbekommt. Dann macht man erst mal Pause, mal kürzer, mal länger, und geht die Aufgabe erneut an. Während der ersten halben Stunde kommt man, genau wie zuvor, nicht voran, doch dann plötzlich fällt es einem wie Schuppen von den Augen …“

Pausen machen, Innehalten, Trödeln, Tagträumen, Dösen, das können alle. Man braucht es nicht zu lernen, nicht zu üben, benötigt kein Training dazu. Aushalten aber muss man, dass Pausen in einer Gesellschaft, die mehr und mehr auf Tempo setzt, zum abweichenden Verhalten erklärt wird. Der Zustand des Verweilens, das ergebnissoffene Trödeln wird gar als Zeitverschwendung angesehen.

Pausen schaffen Abstand

Was genau ist eine Pause eigentlich? Sie ist ein Kurzurlaub vom Weitermachen, eine offene Tür, die viel zu selten eingerannt wird, Augenblick einer Freiheit und des freien Denkens, der von keinem „Muss“ bedrängt wird. Die Pause ist ein „Dazwischen,“ ein Intervall zwischen zwei Aktivitäten, zwei Zuständen. Pausen sind zeitliche Zwischenräume, Zwischenzeiten und Lücken der Unbestimmtheit, die man planen und organisieren, aber auch spontan und nicht beabsichtigt machen kann.

Ob geplant oder ungeplant: Pausen schaffen es, aus einer Bretterwand einen Lattenzaun zu machen, einen „Lattenzaun, mit Zwischenraum, hindurchzuschaun“, schrieb der Dichter Christian Morgenstern amüsiert. Wie das Astloch im Bretterzaun den Blick in eine andere Wirklichkeit öffnet, so eröffnen Pausen Chancen, das Zeitgeschehen in eine andere Richtung zu steuern. Sie sorgen für Durchzug, für die Durchlüftung des Alltagsgeschehens. Sie schaffen Abstand und gewähren Aus- und Durchblicke, unterbrechen ein Tun durch ein Nichtstun, machen durch Unterlassungshandeln aus einer Handlung zwei Handlungssequenzen.

Pausen sind also nicht nichts. Sie bewahren die Menschen vor dem grausamen Schicksal des von den Göttern zum pausenlosen Steinewälzen gezwungenen Sisyphos, ohne Unterbrechung weitermachen zu müssen. Die Pause ist ein sanfter Sturz aus dem Gewohnten, aus dem Selbstverständlichen des Alltagshandelns und der eigenen Biografie.

Pausen provozieren die Frage: Könnte es nicht auch anders sein? Sie machen, was sie unterbrechen, zu etwas Vergangenem und, was ihnen folgt, zu etwas Zukünftigem. Indem sie Abstand schaffen, schaffen sie zugleich Anfang und Ende. Für den notwendigen Abstand zwischen dem Ende und einem Neubeginn sorgt die Dehnungsfuge „Pause.“ Sie garantiert, dass wir nicht zu Gefangenen der eigenen Geschichte und des Immerweitermachens werden, dass wir uns gegen Unerträgliches und gegen Zumutungen aller Art durch Neuanfänge zur Wehr setzen können. Sie lassen spüren, dass noch nicht Schluss ist, sondern nur Pause und dass, obgleich etwas zu Ende gegangen ist, etwas anderes danach weitergeht.

Warum die Pause zur Routine
werden muss

Pausen sind im Zeitgeschehen, was Bänke im öffentlichen Raum sind. Personen, die Pausen machen, haben nicht nur mehr vom Leben, sie leisten auch mehr, so das Ergebnis einer Studie der Universität Harvard. Es hat sich gezeigt, dass die Prüfungsleistungen von Schülern deutlich ansteigen, wenn vor Beginn einer Prüfung eine Pause von 20 bis 30 Minuten gemacht wurde. Pausemachen muss zu einer Routine werden, um die Produktivität jener Routinen sicherzustellen, die keine Pausen sind.

Kultivieren wir also das kleine Glück der unverzweckten Zeiterfahrung: die spontane Kaffeepause, das zufällige Schwätzchen auf dem Flur, der unerwartete Stromausfall, der Computerabsturz, der Blick aus dem Fenster. Pausen müssen keine arrangierten oder organisierten Unterbrechungen sein und sie müssen auch nicht eine Stunde dauern, obgleich Elias Canetti einmal anmerkte: „Es genügt, sich eine Stunde täglich seinen Gedanken zwecklos auszuliefern, um etwas wie ein Mensch zu bleiben.“

Es sind die Pausen, in denen die Sinne und die Gedanken Auslauf haben, der Geist aber weiterhin aktiv ist. Ein Gedanke kommt, wann er will, nicht, wann ich will. „Zum Denken,“ so Walter Benjamin, „gehören nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stilllegung.“ Im Leben geht es nämlich nicht darum, sich zu überlegen, was man noch alles tun kann. Viel wichtiger ist die Überlegung, wie man, was man getan hat, auch genießen kann. Und es sieht ganz danach aus, dass Pausen dafür eine notwendige Bedingung sind. Kurzum: Nicht die Ruhe, sondern die Pause ist die erste Bürgerpflicht.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Routine. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Karlheinz Geißler, Zeitforscher

Karlheinz Geißler

Karlheinz Geißler ist einer der bekanntesten Zeitforscher der Gegenwart. Er war Professor für Wirtschafts- und Sozialpädagogik an der Universität der Bundeswehr in München. Er war zudem Mitinitiator und Teammitglied des Projekts „Ökologie der Zeit“. ­ Mit seinem Sohn gründete er das Institut für Zeitberatung ­Timesandmore. Geißler ist Autor des Buchs „Lob der Pause. Von der Vielfalt der Zeiten und der Poesie des Augenblicks“.

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