Kompetente Tiefstapler

Personalmanagement

Das Hochstapler-Syndrom bezeichnet erfolgreiche Menschen, die daran zweifeln, gut zu sein. Sie haben große Angst zu versagen und am Ende als Hochstapler enttarnt zu werden, obwohl sie es nicht sind. Es ist ein weit verbreitetes Phänomen – mit zum Teil gravierenden Folgen.

Es gibt etwas, das Albert Einstein, Penélope Cruz und Jodie Foster gemeinsam haben: Sie sind alle sehr erfolgreich. Und sie alle litten oder leiden unter Selbstzweifeln. Wie ein Schwindler habe sich Einstein wegen der aus seiner Sicht übertriebenen Wertschätzung für ihn gefühlt. Jeder Dreh beginne für sie mit der Angst rauszufliegen, sagte Cruz. Und Foster fürchtete, ihren Oscar zurückgeben zu müssen, weil er doch nicht für sie gedacht gewesen sei. Die Angst, man sei nicht so gut, wie ein anderer glaubt, hat einen Namen: „Hochstapler-Syndrom“ oder auch „Impostor-Phänomen“. Eigentlich meint es das Gegenteil: ein Tiefstapeln, das so weit gehen kann, dass es die Gesundheit ruiniert.

Entdeckt wurde das Phänomen 1978. Die Psychologinnen Pauline Clance und Suzanne Imes hatten beobachtet, dass viele Frauen trotz großer Erfolge nicht an ihre Kompetenz glaubten. Clance und Imes hielten das für ein überwiegend weibliches Problem. Doch viele Studien zeigen: Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen. „Männer reden nur weniger darüber und machen es mit sich selbst aus“, sagt Sonja Rohrmann, Dekanin und Professorin für Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie ist Autorin des Buchs „Wenn große Leistungen zu großen Selbstzweifeln führen“ und berät Unternehmen zum Impostor-Phänomen. Erst beim Coaching würden viele Arbeitskräfte merken, dass sie die Angst antreibt, ein Hochstapler zu sein, und dass sie damit nicht alleine sind. „Das Effektivste in der Therapie ist, anzuerkennen, dass es existiert“, sagt Rohrmann. Besonders Männer würden davon profitieren, dass heute offen über das Phänomen gesprochen werde.

Auszeichnungen und Höhenangst

Hollywood-Größen haben es getan, Wissenschaftler und jede Menge Journalisten: Sie alle sprechen mittlerweile über ihr Impostor-Phänomen. Auch Magdalena Rogl gehört dazu. Die Digital-Expertin bei Microsoft nennt es ihren ständigen Begleiter. Rogl ist Quereinsteigerin, gelernte Kinderpflegerin und Mutter. Sie hat kein Studium und kein Abitur, hat als Community Managerin bei Focus Online neu angefangen und ist heute als Head of Digital Channels in einer Leitungsposition bei einem Weltkonzern tätig. Sie sitzt auf Podien, gibt Interviews und gewinnt Preise. Doch sie sagt: „Bei jeder Auszeichnung und jeder Anfrage denke ich: Das habe ich doch gar nicht verdient.“ Mit ihrem Erfolg wuchs die Angst, nicht gut genug zu sein. „Umso höher es geht, umso größer wird die Höhenangst“, sagt Rogl.

Jede zweite Führungskraft hat laut einer Studie von Sonja Rohrmann Erfahrungen mit dem Impostor-Phänomen gemacht. Das gilt für alle Berufsfelder und Kulturen, auch wenn es in leistungs- und wettbewerbsorientierten Gesellschaften stärker ausgeprägt ist und in den Bereichen, in denen es um höhere Qualifizierungen geht. Zwei Drittel aller Ärzte hätten ein Impostor-Selbstkonzept, wie Rohrmann es nennt. Den Begriff „Hochstapler-Syndrom“ lehnt sie ab: „Impostor“ meint zwar das Gleiche, die Assoziationen seien aber weniger negativ. „Syndrom“ kennzeichne eine Kombination von Symptomen und stehe für eine Krankheit, es handle sich aber um ein Persönlichkeitsmerkmal, das auch durchaus positive Aspekte habe: „Das Impostor-Phänomen nutzen viele Menschen als Skill“, sagt Rohrmann.

Menschen mit Impostor-Selbstkonzept sind oft beliebte Mitarbeiter: Sie haben einen hohen Anspruch an sich selbst, sind überdurchschnittlich qualifiziert und produzieren sehr gute Ergebnisse, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Nicht immer war es für Magdalena Rogl einfach, die Vorteile zu sehen. Doch heute sagt sie: „Mein Hochstapler-Syndrom ist etwas, das mich antreibt. Zweifel können auch eine Gabe sein, sich selbst zu reflektieren, und sie verhindern, dass man irgendwann abhebt.“

Prokrastination und Perfektionismus

„Ich arbeite lieber mit Menschen zusammen, die ein Hochstapler-Syndrom haben, als mit Blendern“, sagt Frank Kohl-Boas, Leiter Personal & Recht bei der Zeit-Verlagsgruppe. Erlebt hat er beides, auch wenn er lange Zeit nicht wusste, dass es ein Impostor-Phänomen überhaupt gibt. Sensibilisiert hat ihn seine Zeit bei Google. Im zahlengetriebenen Sales-Bereich mit Kennzahlen als klaren Erfolgsmaßstäben saß er regelmäßig Mitarbeitern gegenüber, die hinterfragten, ob sie wirklich gut seien. „Zuerst dachte ich, sie wollen nur eine Extraportion Lob“, sagt Kohl-Boas. Aber mit der Zeit sickerte aus der Zentrale in den USA die Erkenntnis durch, dass es dieses Impostor-Phänomen gibt und wie es Mitarbeitern und Unternehmen schaden kann.

Menschen, die sich ständig infrage stellen, meiden oder überspielen mitunter Situationen, denen sie sich nicht gewachsen fühlen. Prokrastination, Perfektionismus oder ein blinder Aktionismus können folgen. Oft bleiben sie hinter ihren Möglichkeiten zurück, verschenken Potenzial und erledigen stattdessen auch kleinste Aufgaben übergründlich. Bloß keinen Fehler machen, bloß nicht versagen! Sie machen alles, um ihre Kompetenz zu beweisen, vor allem sich selbst gegenüber. Das geht so weit, dass für sie nur noch die Arbeit zählt, ihr Sozialleben liegt brach. Mit der Zeit kann das zu Depressionen, Schlafstörungen und Burn-out führen.

„Niemand kann auf Dauer nur Höchstleistung geben, das permanente Maximum ist nicht das Optimum. Da für Menschen mit Impostor-Phänomen alles stark leistungsorientiert ist, geben sie nicht nur viel, sie legen ihren eigenen Maßstab auch an andere an“, sagt Kohl-Boas. Zuerst mache es Spaß, in einem solchen Team zu arbeiten. Die Energie sei gut. Mit der Zeit aber werde es anstrengend. Will die Führungskraft sichergehen, dass alles umgesetzt wird, und zwar so, wie sie es für angemessen hält, führt das schnell zu Mikromanagement. Das nervt und strapaziert Mitarbeiter. Der Job könne doch nicht alles im Leben sein, klagen dann einige. Wenn er das hört, fragt Kohl-Boas genauer nach und bietet sich als Sparringspartner an, um mit den Teamleitungen Führungsfragen zu reflektieren. „Ich spreche zum Beispiel mit ihnen darüber, wie es sich anfühlt, in ihrem Team zu arbeiten, und helfe ihnen, die Helikopter-Position einzunehmen. Fehler gehören dazu. Eine Führungskraft muss heute nicht alles können. Ich spiegle ihnen ihre Leistung und zeige, wie aus einer Stärke eine Schwäche wird.“

Die Perspektive der Freundin einnehmen

Wenn sie mal wieder nicht an ihre Stärken glauben will, hilft sich Magdalena Rogl mit einem Trick: Sie stellt sich vor, sie würde mit ihrer besten Freundin sprechen und ihre Position einnehmen. Die suche am Ende immer nach etwas Positivem. Und so baut sich Rogl selbst auf. Da sie die Angst kenne, zu versagen, sei sie auch bei ihren Mitarbeitern verständnisvoll. Einmal die Woche nehme sie sich die Zeit für ein Gespräch. Die wichtigste Frage sei nicht: „Wie laufen die Projekte?“, sondern: „Wie geht es dir?“. „Ich möchte ein Vertrauensverhältnis aufbauen und alle dazu motivieren, sich zu reflektieren“, sagt sie.

Wer so große Angst davor hat, zu versagen, muss auch lernen, mit Kritik umzugehen. Gerade im kreativen Bereich und auf Social Media gibt es viele, die eine Meinung haben und fremde Leistungen infrage stellen – Kunden, Leser, Experten, Kollegen oder einfach nur Trolle. Wie sehr das Mitarbeiter berührt und der Zweifel an ihnen nagt, ist für Personaler nicht immer offensichtlich. Darum empfiehlt sich ein Gespräch, aber nicht nur einmal im Jahr. „Ich brauche regelmäßige Touchpoints, um so etwas zu sehen“, sagt Kohl-Boas. In den Gesprächen kann man reflektieren, was Mitarbeiter umtreibt, wie sehr sie sich verausgaben, was sie sich selbst zutrauen und wie das andere sehen. Auch ein Mentoring-Programm und Coachings können helfen. Ist das Impostor-Phänomen sehr stark ausgeprägt und der Leidensdruck hoch, empfiehlt sich eine Psychotherapie.

Egal welche Maßnahme man nutzt, die Angst, dass sich eine Person zum Schaumschläger wandelt oder jemand ein Talent verliert, ist laut Experten unbegründet. Schließlich ist das vermeintliche „Hochstapler-Syndrom“ ein Persönlichkeitsmerkmal, das immer da war und bleiben wird. Es kann höchstens im Alter abnehmen, wenn sich die Auszeichnungen mehren und immer offensichtlicher wird, wie gut man ist und was man leistet – trotz oder gerade wegen der vielen Selbstzweifel.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Hochstapler. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Mirjam Stegherr, Journalistin, Moderatorin und Beraterin

Mirjam Stegherr

Freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin
Mirjam Stegherr ist freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin.

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