Frugalismus: Mit 40 in Rente

Future of Work

Mit 40 Jahren in Rente gehen – wer träumt nicht davon? Was wie eine Utopie klingt, ist tatsächlich möglich. Der Softwareentwickler Oliver Noelting zeigt, wie es funktionieren kann und welche Rolle dabei die Nachhaltigkeit spielt.

Herr Noelting, Sie sind Frugalist. Das heißt, Sie versuchen so viel Geld wie möglich zu sparen, um mit Ende 30 nicht mehr arbeiten zu müssen. Wie soll das funktionieren?
Beim Frugalismus geht es in erster Linie darum, ein möglichst glückliches und erfülltes Leben zu führen. Dahinter steht die Erkenntnis, dass man nur dieses eine Leben hat und es nicht verschwenden will. Ein weiterer Bestandteil dieser Lebensphilosophie dreht sich darum, möglichst viel Geld zu sparen und in Aktien anzulegen. Ich möchte mich frei fühlen und irgendwann nicht mehr für Geld arbeiten müssen.

Fühlen Sie sich denn nicht gerade dann frei, wenn Sie Ihr Geld ausgeben können, ohne darüber nachdenken zu müssen?
Das wäre eine trügerische Freiheit. Irgendwann ist jedes noch so große Vermögen aufgebraucht. Glücklich ist nicht, wer viel hat, sondern wer sich wenig wünscht. Ein Frugalist sucht und identifiziert diesen Punkt und setzt sich bewusst Grenzen. Besitz macht niemanden dauerhaft glücklich.

Warum macht Besitz nicht dauerhaft glücklich?
Weil wir immer wieder neue Glückserlebnisse brauchen. Unser Happiness-Level kehrt immer wieder auf einen Ausgangswert zurück. Jeder Luxus wird irgendwann Standard. Das ist die hedonistische Adaption.

Aber wenn grundlegende Bedürfnisse nicht erfüllt sind, ein Dach über dem Kopf fehlt, es an Kleidung oder Nahrung mangelt, dann sind Menschen doch unglücklich?
Richtig, aber solange die Basisbedürfnisse erfüllt sind, macht es langfristig keinen Unterschied, ob man einen hohen oder einen niedrigen Lebensstandard hat.

Häufen Menschen nicht immer mehr Besitz an, um glücklich zu sein und das nach außen auch zu zeigen? Bilder aus sozialen Medien suggerieren ja genau das.
Es entstehen aber auch immer mehr Gegenbewegungen wie der Minimalismus. Die Menschen hinterfragen, was sie für ein erfülltes Leben wirklich brauchen. Es gibt einen Trend hin zum bewussten Konsum.

Würden Sie sagen, dass der frugale Lebensstil nachhaltiger ist?
Wer weniger kauft, schädigt die Umwelt weniger. Das muss beim Frugalismus jedoch nicht zwangsläufig der Fall sein, denn wenn man seine Ersparnisse für Flugreisen ausgibt, rücken Nachhaltigkeit und Umweltschutz wieder in den Hintergrund. Frugalismus muss nicht zu einem nachhaltigeren Lebensstil führen, aber er macht es einem leichter.

Als Softwareentwickler verdienen Sie, laut Ihres Blogs, monatlich etwa 1.800 Euro. Über die Hälfte der Einnahmen legen Sie beiseite. Das hört sich nach Verzicht an.
Es fühlt sich für mich ja eben nicht wie ein Verzicht an. Ich muss nicht mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen. Ich ernähre mich vegetarisch. Vieles kaufe ich gebraucht. Wir wohnen in einer kleinen Wohnung, wodurch die Nebenkosten gering ausfallen. Ich fahre meist mit dem Fahrrad, spare also das Geld für öffentliche Verkehrsmittel. Und ich repariere defekte Gegenstände, anstatt sie durch neue zu ersetzen.

Das kann aber nicht jeder.
Das ist aber gar nicht so schwer. Es gibt Anleitungen und Videos im Internet. Wenn ich Dinge repariere, scheitere ich auch mal. Aber so lerne ich etwas über die Gegenstände. Wenn du etwas nicht reparieren kannst, gehört es dir nicht.

Aber für eine Reparatur muss man Zeit haben.
Und die habe ich, weil ich in Teilzeit arbeite. 24 Stunden in der Woche als Angestellter und etwa vier Stunden wöchentlich als Freelancer.

Warum sind Sie Frugalist geworden? Sind Sie eines Tages aufgewacht und haben gedacht: So kann’s nicht weitergehen?
Ich habe vor sechs Jahren über meinen damaligen Mitbewohner von Mr. Money Mustache gehört, einem US-Finanzblogger. Er hat so viel gespart, dass er schon früh aufhören konnte zu arbeiten. Ich war erst skeptisch und dachte: Niemand kann mit 30 Jahren in Rente gehen. Das ist doch unrealistisch! Als ich mich dann selbst damit beschäftigt habe, habe ich festgestellt: Doch, das geht. Mir wurde klar, dass ich auch schon mit Mitte oder Ende 30 aufhören könnte zu arbeiten.

Und dann wollten Sie sparen.
Ja, aber ich war ohnehin nie sonderlich verschwenderisch. Aber ich dachte schon, dass ich mir bestimmte Dinge anschaffen werde, wenn ich erst einmal Geld verdiene: einen Fernseher, ein Auto und so weiter. Ich dachte, dass man sich im richtigen Leben auch auf eine bestimmte Art und Weise einrichten muss. Ich war innerlich auf Konsum getrimmt. Das wird uns gesellschaftlich auch so vorgelebt. Die Werbung suggeriert uns: Wenn ich bestimmte Dinge besitze, werde ich glücklich.

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, mehr zu arbeiten, um ihr Ziel schneller zu erreichen?
Ja, aber dann würden meine Bedürfnisse miteinander in Konflikt geraten. Ich möchte viel Zeit mit meiner Familie verbringen, meine Tochter aufwachsen sehen, meinen Blog schreiben. Ich versuche das Beste aus dem Hier und Jetzt zu machen.

Kann jeder Frugalist werden?
Wenn es darum geht, bewusst zu leben und sich zu fragen, wofür man sein Geld ausgibt: Ja. Es ist für manche allerdings sehr schwer, die finanzielle Freiheit zu erreichen, um mit 30 oder 40 in Rente gehen zu können. Man muss jahrzehntelang sparen.

Aber warum sollten wir mit 30 oder 40 Jahren nicht mehr arbeiten wollen? Es gibt Menschen, die sehr glücklich sind mit ihrem Beruf und ihrer Anstellung.
Ich möchte mit 40 Jahren nicht mehr für Geld arbeiten müssen. Ich finde Arbeit sehr wichtig und sie gehört für mich zu einem erfüllten Leben. Allerdings handelt es sich für mich auch um Arbeit, wenn ich defekte Dinge repariere oder an meinem Blog schreibe. Ob ich dabei Geld verdiene oder nicht, ist zweitrangig. Es geht um eine finanzielle und psychische Freiheit. „Arbeiten in der arschlochfreien Zone“, nennt das der Autor und Geldexperte Albert Warnecke.

Der Gegenentwurf zur klassischen Erwerbsarbeit.
Das ist der Zustand, den ich anstrebe. Und wer garantiert mir denn, dass ich meinen Job in zehn oder zwanzig Jahren noch mag? Es ist naiv zu glauben, dass dieser Zustand Zeit eines Lebens anhält.

Wenn Sie Ihr Sparziel jetzt schon erreicht hätten und nicht mehr arbeiten bräuchten: Was würden Sie aktuell anders machen, als Sie es gerade tun?
Dann würde ich wahrscheinlich mehr Zeit in meinen Blog stecken. Und ich würde gerne noch mehr Zeit mit unserer Tochter verbringen.

Wie lebt man als Familie das Prinzip Frugalismus?
Seitdem ich Vater geworden bin, frage ich mich noch mehr: Was ist wirklich wichtig für mein Lebensglück? Finanziell ist unsere Sparleistung jetzt etwas geringer, weil wir durch die Elternzeit einen Einkommensausfall haben. Aber unsere Ausgaben sind nur marginal gestiegen und das Kindergeld federt die Ausgaben etwas ab. Es wird sich noch zeigen, ob ich trotzdem mein Ziel, mit 40 nicht mehr arbeiten zu müssen, erreichen kann.

Sie geben 120 Euro im Monat pro Person für Lebensmittel aus. Ist nachhaltiges Einkaufen, Bio oder Fairtrade, da überhaupt möglich?
Das wäre sehr sportlich. Bio hat für mich nicht die größte Priorität. Aber wenn ich die Wahl habe zwischen einer teureren nicht eingeschweißten Gurke und einer günstigeren eingeschweißten, dann wähle ich erstere. Und ich kaufe nur Bio-Eier und Bio-Milch.

Auf Ihrem Blog machen Sie alle Einnahmen und Ausgaben öffentlich. Sie schreiben, wie viel Sie womit verdienen, wie viel Sie für Lebensmittel, Miete, Kleidung und Freizeitaktivitäten ausgeben. Wieso machen Sie das?
Als ich die Idee zu meinem eigenen Blog hatte, wäre mir das im Traum noch nicht eingefallen. Ich hatte Angst, dass jemand neidisch wird oder mich beklauen will. Wenn man über finanzielle Freiheit und über Geldsparen schreibt, macht es einen großen Unterschied, ob man seine Finanzen nur andeutet oder offenlegt. Leser können aber nur verstehen, wie Sparen funktioniert, wenn sie es nachvollziehen und auf ihre eigene Situation übertragen können. Die Transparenz macht das Thema verständlicher. Die negativen Konsequenzen sind übrigens ausgeblieben.

Sie wollen, dass Ihr Geld ab einem bestimmten Zeitpunkt für sich arbeitet. Wie genau funktioniert das?
Die Grundidee dahinter ist das sogenannte passive Einkommen. Ich versuche einen Einkommensstrom aufzubauen, der unabhängig davon ist, wie viel ich arbeite. Für mich war die einfachste Möglichkeit, ein Teil meines Einkommens in Wertpapiere zu stecken, es also in Aktien zu investieren. Durch dieses passive Einkommen verdiene ich auch Geld, wenn ich schlafe.

Ist das nicht riskant? Bei der nächsten Wirtschaftskrise könnte Ihr Erspartes weg sein.
Die Frage ist, wie riskant lege ich mein Geld an? Bei einer Wirtschaftskrise sinkt der Wert des Geldes erst einmal nur temporär. Nach der Finanzkrise 2008 hatten sich die Kurse nach etwa sechs bis sieben Jahren wieder erholt. Wenn ich langfristig und immer nur einen Teil investiere, minimiere ich das Risiko und kann einen Abschwung aussitzen.

Aber dann hätten Sie auch in der Zeit des Abschwungs erst einmal sechs bis sieben Jahre kaum Einkommen.
Nicht ganz, denn ich behalte ja auch einen Teil des Geldes. Aber klar, ein Restrisiko bleibt. Die Rendite einer Aktie ist immer die Belohnung für ein eingegangenes Risiko. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es im Leben nicht. Im schlimmsten Fall kann ich in meinen alten Job zurück oder meine Ausgaben noch weiter verringern.


Frugalismus

Die Philosophie des Frugalismus steht für ein bescheidenes und sparsames Leben. Maßgeblich geprägt wurde die Bewegung von dem Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ (1972). Darin schlussfolgern die Autoren, dass die Wachstumsgrenzen der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht sein werden. Die Ursachen hierfür liegen dem Bericht zufolge im globalen Bevölkerungszuwachs, in der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe. Ursprünglich stammt der Frugalismus aus den USA, wo er FIRE genannt wird: Financial Independence, Retire (early), übersetzt: finanzielle Unabhängigkeit, frühe Rente. Die Bewegung geht zurück auf das Buch „Your Money or Your Life“ der Autorin Vicki Robin und des Finanzanalysten Joe Dominguez. Das Buch wurde 1992 veröffentlicht und basiert auf einer Vorlesungsreihe der Autoren aus den 1980er Jahren. Dominguez führte selbst einen bescheidenen Lebensstil und hatte im Alter von 30 Jahren bereits so viel gespart, dass er nicht mehr arbeiten brauchte.


Legen Sie Ihr Geld in grüne Investments an?
Nein, das mache ich aktuell nicht. Das hat aber auch etwas damit zu tun, dass es momentan noch schwierig ist. Es gibt Fonds, die als nachhaltig bezeichnet werden und dennoch Aktien von McDonalds enthalten.

Wenn alles gut läuft, dann könnten Sie mit 40 von der Rendite Ihrer Aktien leben. Müssen Sie dann frugal weiterleben, damit das Geld reicht?
Genau, das ist die Idee. Ich will ja auch gar nicht mehr. Wenn ich zehn Millionen Euro gewinnen würde, würde ich wahrscheinlich neuneinhalb Millionen spenden, den Rest behalten und genauso weiterleben wie jetzt. Ich habe mich bewusst für dieses Leben entschieden. Mich würde ein anderes Leben langfristig nicht glücklicher machen.

Wenn nun plötzlich alle Menschen Frugalisten werden, kann dieses Konzept dann noch funktionieren? Bleibt der Konsum aus, sinken die Unternehmenswerte und mit ihnen die Aktien. Ist Frugalismus also nur in Verbindung mit Kapitalismus denkbar?
Mein Ziel funktioniert durch das System, in dem wir leben. In unserer konsumorientierten Gesellschaft ist es sehr einfach, durch Frugalismus unabhängig zu werden, weil es immer Menschen gibt, die mehr konsumieren, als sie wirklich müssten. Das ist aber auch unabhängig vom Aktienhandel der Fall: Online kaufe ich sehr günstig kaum getragene Schuhe, weil niemand gebrauchte Schuhe kaufen würde. Es gibt immer Menschen, die Kleidung kaufen, nicht tragen und sie wieder loswerden wollen. Ich bin Nutznießer dieses Systems.

Zum Interviewpartner:

Der Frugalist Oliver Noelting, 31, ist Softwareentwickler und lebt mit seiner Freundin und Tochter in Hannover. In seiner Freizeit fährt er am liebsten Skateboard und betreibt seinen Blog frugalisten.de. Dort berichtet er, wie er über die Hälfte seines Einkommens spart, um mit 40 ausgesorgt zu haben.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Nachhaltigkeit. Das Heft können Sie hier bestellen.

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(c) Stefan Wieland

Hannah Petersohn

Chefredakteurin
Human Resources Manager
Hannah Petersohn war bis Oktober 2020 Chefredakteurin des Magazins Human Resources Manager. Die gebürtige Berlinerin hat Kulturwissenschaften und Philosophie in Berlin und Paris studiert und ihr Volontariat bei der Tageszeitung Weser Kurier in Bremen absolviert.

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