Flexibilität und Agilität als Teufelskreis

Employer Branding

Aufgabe der Wissenschaft ist es, Konzepte unabhängig von ihrer Popularität zu hinterfragen. Das gilt auch für den derzeit allgegenwärtigen Ruf nach Flexibilität und Agilität. Bei dieser Forderung gibt es durchaus gravierende Probleme und Gründe zum Nachdenken. Ein Debattenbeitrag von Christian Scholz.

Zurzeit hören wir von Rednerpulten auf Konferenzen und in Workshops immer die gleiche Forderung: „Wir brauchen mehr Flexibilität und Agilität. Nur so können wir den globalen Herausforderungen begegnen!“ Packt man dann noch „Demokratisierung“ und „Mobilität“ hinzu, sind Jubel und Zustimmung vorprogrammiert.

Problematische Wirklichkeit

Es stören allerdings einige unausgesprochene Details. So bezieht sich „Flexibilität“ als Forderung primär auf die Mitarbeiter, die im Gegenzug Flexibilität (nur) bekommen, wenn einmal keine unternehmerischen Interessen entgegenstehen. Zu dieser Einseitigkeit passen auch Forderungen nach „flexiblen“ Arbeitszeitgesetzen und nach Work-Life-Blending als flexibel-agiler Verschmelzung beruflicher Arbeit mit privatem Leben. Der Mitarbeiter wird zur Flexibilitätsschraube, an der das Unternehmen beliebig drehen kann.

Gerade jüngere Mitarbeiter akzeptieren allerdings nur bedingt diese extreme unternehmensseitige Flexibilität und Agilität, von Mobilität und anderen Entwürfen zur Arbeitswelt ganz zu schweigen: Zu wichtig sind ihnen Freunde, Familie und Freizeit; zu eindeutig sucht vor allem die Generation Z Struktur und Sicherheit.

Zudem gibt es zwar lautstarke Forderungen nach Flexibilität und Agilität, aber kaum überzeugende Vorschläge zur Umsetzung. Beispiel Scrum: Hier sollen alle Projektbeteiligten in unzähligen Meetings erfahren, woran alle Kollegen arbeiten und was an allen Kundenschnittstellen passiert. Klingt gut, es fehlen aber handfeste Belege dafür, dass diese zeitintensive Gesprächs- und Zertifizierungsbürokratie zu mehr wirtschaftlichem Erfolg führt. Oder das Beispiel Holacracy: Völlig demokratisiert wird jeder im Unternehmen zur Führungsperson, was automatisch zu Flexibilität und Agilität führen soll – aber allein schon wegen erhöhter Transaktionskosten kaum funktionieren kann. Derartige Vorschläge mögen für kleine Teams in der Software-Entwicklung passen, sind aber selbst dort umstritten: Zu oft münden maximale Flexibilität und Agilität in Crunch Time, bei der am Projektende Mitarbeiter agil und flexibel in ihrem Büro leben.

Was passiert, wenn man aufgrund unbestreitbarer Dynamik und Komplexität konsequent auf Flexibilität und Agilität setzt, sich aber die positiven Effekte konsequent nicht einstellen? Erdrückende Dynamik und unbeherrschbare Komplexität nehmen zu. Konsequenz? Wir setzen noch mehr auf Flexibilität und Agilität. Ein Teufelskreis.

Problematische Nebeneffekte

Flexibilität und Agilität als Mantra führt dazu, dass andere (wichtige) Aktivitäten fast schon selbstredend wegfallen.

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Wenn sowieso alles dynamisch und komplex ist, warum soll man sich dann noch mit Planung und Strategie befassen? Strategische Personalplanung oder gar Personalstrategie gehören demnach allenfalls in verstaubte Lehrbücher, auf die man im Zeitalter von Wikipedia und Trivialratgebern verzichten kann. Die Zukunft ist unsicher: Warum sich also mit Personalbedarfsanalysen und mit Entwicklungsplanungen abplagen? Also doch lieber völlig agil genau das machen, was viele am liebsten tun, nämlich aktionistisch improvisieren? Bereits die Kybernetik zeigt die Unmöglichkeit, Ziele planvoll zu erreichen, wenn man gleichzeitig die Gültigkeit der Ziele anzweifelt. Zudem geht dieser Planungsverzicht zulasten der Mitarbeiter.

Dazu ein kleines Beispiel: Im Betrieb gibt es ein Arbeitsschichtmodell, das über Springer- und Pufferregelungen Mitarbeitern drei Monate Planungssicherheit garantiert. So ein Modell ist komplex und nicht einfach zu erstellen. In der Logik von Flexibilität und Agilität fällt das alles weg. Man setzt einfach auf die Flexibilität der Mitarbeiter und verpflichtet sie zur agil-permanenten Rufbereitschaft. Wie das funktioniert und wer davon profitiert, sieht man in Großbritannien an den Zero-Hour-Contracts.

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Unter dem Deckmantel von Flexibilität und Agilität verflacht die Personalarbeit. So verzichten die missionarischen Apostel dieser Glaubensrichtung beim Employer Branding gerne darauf, existente generationenspezifische Besonderheiten zu verstehen und systematisch zu berücksichtigen. Stattdessen kommen Aussagen wie: „Das brauchen wir alles nicht, wir stellen Persönlichkeiten und Großartigkeit ein.“ Man ersetzt also wieder Planung und Analyse durch agiles und tagesaktuelles Bauchgefühl.

Ein Beispiel: Professionelles Hochschul-Recruiting pflegt systematisch Kontakte zu Hochschulen und begeistert Kandidaten frühzeitig für sich. Doch warum auf Kontinuität und mühevolle Planung setzen? Es geht viel einfacher, also viel agiler und flexibler: Wenn ich merke, dass ich (morgen) zwei Praktikanten oder einen Trainee brauche, dann gibt es Dutzende kleine Startups, die mir für (viel) Geld rasch (mehr oder eher weniger) passende Kandidaten liefern.

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Schließlich führt Flexibilität und Agilität in der aktuellen Denkhaltung zur Abschaffung professioneller Personalabteilungen. Denn die wenigen verbleibenden personalwirtschaftlichen Aufgaben (wie Personalbeschaffung und Personaleinsatz) werden in „agile“ Personalberatungen ausgelagert oder auf „flexible“ Führungskräfte übertragen. Nicht ohne Grund sind es gerade die vielen freien HR-Berater und die Flut der kleinen HR-Startups, die medial wirksam das hohe Lied der Flexibilität und Agilität singen. So rücken sie unabhängig von ihrer Professionalität in den Vordergrund, deprofessionalisieren aber gleichzeitig die Personalarbeit.

Besonders fatal: Wettbewerbsvorteile durch gute Personalarbeit werden weder angestrebt noch realisiert. Auch wenn Forscher wie Rita McGrath bei dauerhaft zu verteidigenden Wettbewerbsvorteilen skeptisch sind, haben es die Unternehmen schwer, die überhaupt nicht mehr auf derartige personalspezifische Wettbewerbsvorteile setzen.

Was aber passiert, wenn man konsequent auf Flexibilität und Agilität setzt, gleichzeitig aber Planung, Strategie und „Wettbewerbsvorteile durch Personalarbeit“ aus dem Repertoire streicht? Die Dynamik wird immer unbeherrschbarer, die Komplexität immer größer. Und was ist die Konsequenz? Noch mehr Forderungen nach noch mehr Flexibilität und Agilität, also noch mehr Verzicht auf Planung, Strategie, professionelle Personalarbeit und Personalabteilungen. Ein weiterer Teufelskreis.

Die neue Dualität

Teufelskreise sind schwer zu durchbrechen. Wir können aber versuchen, sie zu verstehen und zu verkleinern. Dazu gehört zunächst, dass wir den allgegenwärtigen Fliegenfängern mit ihrem verführerischen Rufen nicht länger auf den Leim gehen. „Agilität“ ist kein PR-Gag und „Flexibilität“ keine Entschuldigung für fahrlässige Planung.

Selbst das vielzitierte Silicon Valley ersetzt nicht Planung und Strategie durch Flexibilität und Agilität. Unternehmen wie Google und Facebook praktizieren professionelle Personalarbeit: Gerade dadurch werden sie flexibel und agil.
Anfang der 1990er Jahre konnte ich bei diversen Projekten zur Virtuellen Organisation mitwirken. Dort wurde Variabilität durch komplexe Dynamik, kompetenzbasierte Strategie und varietätsgenerierende Planung angestrebt. Mit den neuen Möglichkeiten unserer Industrie 4.0 ist vieles davon heute leichter realisierbar. Selbst umstrittene Konzepte wie Big Data könnten dann dazu beitragen, nachhaltige Wettbewerbsstrategien zu entwickeln und Umweltvarietät durch Planungsvarietät auszugleichen.

Wir brauchen eine neue Dualität, bei der sich proaktive Flexibilität und Agilität und professionelle Planung und Strategie wechselseitig unterstützen. Auch die Digitalisierung fordert nicht nur mehr Flexibilität und Agilität. Sie schafft vielmehr neue Möglichkeiten zu längerfristigen Planungen und Strategien.

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Christian Scholz

Prof Dr. Christian Scholz

Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Organisation, Personal- und Informationsmanagement
Universität des Saarlandes
Univ.-Prof. Dr. Christian Scholz (orga.uni-sb.de) wurde 1986 an die Universität des Saarlandes berufen. Er publiziert in wissenschaftlichen Zeitschriften, schreibt aber auch Kolumnen in Zeitungen und bloggt seit 2006 als „Per Anhalter durch die Arbeitswelt. Christian Scholz kam sechsmal auf die Liste der 40 führenden Köpfe im Personalwesen und danach 2015 in die „Hall of Fame“. Zu seinen wichtigsten Arbeiten zählen zwei Lehrbücher zum Personalmanagement sowie die Trendstudien zum Darwiportunismus (2003) und zur „Generation Z“ (2014).

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