Das Bewerbungs­anschreiben bleibt wichtig!

Recruiting

Es ist eine Diskussion entbrannt über den Sinn und Nutzen des Bewerbungsanschreibens. Die Deutsche Bahn hat bereits 2017 beschlossen, dass für bestimmte Positionen kein Anschreiben mehr nötig ist. Andere Unternehmen ziehen nach. Erste Auswertungen belegen, dass es seitdem in diesen Unternehmen viel mehr Bewerbungen gibt. Aber ist mehr auch gleich besser? Ich bezweifle das.

Wenn es darum geht, die talentiertesten Köpfe für sich zu gewinnen, sind Maßnahmen, die die Bewerbung vereinfachen, ein taktisch kluges Instrument. Es gibt mittlerweile zig digitale Plattformen und Apps, die mir die Bewerbung vereinfachen, indem ich meine Unterlagen einmalig hoch lade und dann bei Bedarf versende, teilautomatisiert selbstverständlich.

Einen wirklichen Mehrwert bringen diese Tools und bringt eine Bewerbung ohne Anschreiben mir als Bewerber aber nur, wenn ich einen lupenreinen CV habe. Die Auswahlkriterien werden sich allein an den Hard Facts wie Qualifikationen, Positionen, berufliche Erfolge, Stringenz und Konstanz der Erwerbstätigkeit orientieren. Habe ich berufliche Auszeiten, erklärungsbedürftige Jobwechsel oder andere Ungereimtheiten im CV laufe ich Gefahr, schon im Vorwege, auch teilautomatisiert, aussortiert zu werden.

Wie sieht es für die Unternehmen aus, erhalten sie mit diesem Vorgehen automatisch die talentiertesten Bewerber? Nein! Lassen Sie uns zwei Szenarien durchspielen, die die Problematik veranschaulichen. Im ersten Szenario verzichtet das Unternehmen auf ein Anschreiben. Es bewerben sich zwei Personen mit identisch guter Ausbildung. Die eine Person, nennen wir sie A, hat einen lückenlosen CV, die andere Person, B, eine Auszeit von fünf Jahren. Der Erfahrung nach wird die Person A, die ohne berufliche Auszeit, sehr viel größere Chancen haben. Sie kann ihre aktuellen Berufserfahrungen in die Waagschale werfen.

Nun zum zweiten Szenario. Dieselben Bewerber A und B haben jetzt auch ein Anschreiben geschrieben. Person B, die mit der Auszeit, belegt im Anschreiben, dass sie die Unternehmens-DNA komplett verinnerlicht hat. Sie legt pointiert dar, wie sie Mehrwert schaffen kann und überzeugt. Person A hingegen wirkt im Anschreiben eher blass und farblos. Und auf einmal wird auch die Person mit der Auszeit ein interessanter Kandidat für Ihr Unternehmen. Wie kann das sein?

Soft Skills zeigen sich erst im Anschreiben

Die Stärke des Anschreibens liegt im Unterschied zum CV darin, mit Soft Skills zu überzeugen. Dazu gehören Motivation, Kommunikationsstärke, Empathie, Flexibilität, Durchsetzungsvermögen, Cultural Fit. Diese Skills waren schon immer bedeutsam, in Zukunft werden sie jedoch überlebensnotwenig sein und den Hard Skills den Rang ablaufen. Denn die Anforderungen an die Arbeitnehmer werden sich immer weniger an konkretem Wissen, sondern an der Bewältigung komplexer und unbekannter Situationen orientieren. Für diese Herausforderungen braucht man vor allem Soft Skills.

Soft Skills muss man sich aneignen, verfeinern und üben. Man braucht aber keinen lückenlosen CV, um gute Soft Skills zu besitzen. Um die Bewerber zu finden, welche die wertvollsten Soft Skills mitbringen, ist ein Anschreiben unabdingbar.

Lebensläufe müssen nicht mehr lückenlos sein

Es kommt noch ein weiteres Argument für ein Anschreiben hinzu, das meiner Ansicht nach vernachlässigt wird. Bislang wird angenommen, dass der typische Bewerber keine Lücke oder Brüche im CV hat. Und wer eine hat gehört, platt gesagt, zu der Gruppe Berufsrückkehrer nach Elternzeit oder als unsteter Charakter. Das wird sich in Zukunft jedoch signifikant ändern.

Unsere moderne Arbeitswelt ist geprägt von Disruption. Bewährte Geschäftsmodelle können sich innerhalb von Monaten pulverisieren, zukunftsträchtige Berufskarrieren ebenso schnell in Luft auflösen. In Zukunft werden berufliche Auszeiten ebenso selbstverständlich werden, wie der Quereinstieg in andere Branchen, weil alte Branchen nicht mehr existent ist

Wenn wir weiterhin vor allem auf den (idealtypischen) Lebenslauf achten, laufen wir Gefahr, immer mehr Talente außer acht zu lassen. Talente, deren Soft Skills genau das sein könnten, was unser Unternehmen heute benötigt, um für morgen gut aufgestellt zu sein. Eine Vereinfachung der Bewerbung ist gut und richtig, das Weglassen des Anschreibens der falsche Weg!

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Gesche Heitmann

Gesche Heitmann

Gesche Heitmann, Wirtschaftssoziologin, hat knapp 20 Jahre internationale Marketingforschung für IT-Konzerne verantwortet. Zusammen mit Julia Mohring, Leadership Coach, hat sie die Plattform „Restart Today“ mit einem Mentoring-Programm für den beruflichen Neustart gegründet. Im Mai 2020 ist dazu im Haufe-Verlag das Buch „Restart Today – Roadmap für dein erfolgreiches berufliches Comeback“ erschienen.

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