Brückenteilzeit: Maximal flexibel arbeiten

Employer Branding

Was für viele Arbeitgeber seit der Gesetzesänderung zur Brückenteilzeit neu ist, lebt der IT-Dienstleister Inovex schon seit Jahren: Jeder der knapp 250 fest angestellten Mitarbeiter hat ein Recht auf befristete oder unbefristete Teilzeit. Personalerin Jasmina Groeger über einen mühsamen, aber lohnenswerten Weg zu Freiheit und Agilität

 

 

Frau Groeger, bei Inovex sind Sie schon lange großzügig, was das Teilzeitangebot anbelangt. Haben Sie sich von jeglichen Restriktionen losgesagt?
Wir bieten die volle Flexibilität, lediglich zwei Spielregeln haben wir festgelegt: Es müssen mindestens 20 Stunden pro Woche sein und die Arbeitszeit darf acht Stunden am Tag nicht überschreiten. Alles andere darf jeder individuell entscheiden, auch ob er die Teilzeit befristet nehmen möchte.

Als Mitarbeiterin könnte ich demnach beschließen, für die nächsten acht Monate 23 Stunden pro Woche zu arbeiten und von da an 34 Stunden?
Ja, das wäre möglich. Solche Entschlüsse­ entstehen meist abgestimmt auf aktu­elle Lebensumstände. Zudem gibt es Mitarbeiter, die zum Beispiel generell nur von Montag bis Donnerstag arbeiten möchten, weil freitags die Familie oder ihr Hobby im Mittelpunkt stehen. Ob das für eine gewisse Phase gilt oder langfristig, bleibt ihnen überlassen. Die Rückkehr in die Vollzeit­arbeit haben wir schon immer gelebt und angeboten. Deswegen spielt das Brückenteilzeitgesetz für uns keine Rolle.

Das Unternehmen wurde 1999 gegründet. Seit wann besteht diese offene Teilzeit- und Präsenzkultur?
Das war bereits mehrere Jahre gängige Praxis, verlief aber eher inoffiziell. Vor zwei Jahren haben wir uns dafür entschieden, die Teilzeitmöglichkeit intern und extern klarer zu kommunizieren. Wir wollten nicht, dass sie als „Geheimtipp“ gilt, der Insidern vorbehalten ist. Es gibt bei uns keine Kernarbeitszeiten, Mitarbeiter dürfen jederzeit ins Homeoffice wechseln. Um damit auch außerhalb des Unternehmens punkten zu können, sind wir verstärkt in die Kommunikation dieser Modelle gegangen.

Welches Echo hat die neue Kultur intern ausgelöst?Vor allem die Mitarbeiter, die das Unternehmen aus der Gründungszeit kennen, waren anfangs verblüfft. Mit der Zeit haben sich immer mehr Mitarbeiter getraut, die neue Freiheit zu nutzen, und die anderen haben bemerkt: Das funktioniert, nichts bricht zusammen.

Und in puncto Employer Branding?
Extern hat uns die Offensive extrem geholfen. Gerade die IT ist ein schwieriges Feld, wenn es um Fachkräftegewinnung geht. IT-Experten überlegen sich gut, ob sie in einem Projekthaus arbeiten möchten. Viele haben die Sorge, dann fünf Tage pro Woche auf Reisen zu sein. Seitdem wir diese Teilzeitkultur leben, verzeichnen wir deutlich größere Recruiting-Erfolge. Wir liegen jetzt bei rund 400 Bewerbungen im Monat, zwei Jahre davor waren es etwa 100 bis 150.

Was war die größte Herausforderung in der Umsetzung der Flexibilität?
Wir sind kein Unternehmen, das Produkte entwickelt und auf den Markt bringt. Als Dienstleister arbeiten wir in enger Abstimmung mit unseren Kunden. Dafür müssen die Projektmitarbeiter häufiger reisen, zumindest in bestimmten Teams und Positionen. Eine Unternehmensphilosophie mit Vertrauenskultur zu etablieren, ist das eine. Aber der Kunde muss den Weg mitgehen. Das war die härtere Nuss in der Umsetzung.

Mit welchen Bedenken haben die Kunden Sie konfrontiert?
Sie fürchteten sich vor schlechterer Erreichbarkeit und einem damit verbundenen organisatorischen Aufwand.

Wie haben Sie sie vom neuen Modell überzeugt?
In den vergangenen anderthalb Jahren sind auch sie immer offener geworden und haben ihre eigenen Erfahrungen gesammelt. Zum Beispiel, dass es oft wenig sinnvoll ist, einem Projektverantwortlichen eine fünfstündige Zugfahrt zur Zentrale zuzumuten, während er die Zeit im Homeoffice effizienter nutzen könnte. Wenn wir für jemanden schon mehrere Projekte erfolgreich abgeschlossen haben, steigt der Vertrauensfaktor, und die Konkurrenz sinkt naturgemäß. Da sind wir rigoros: „Sie wollen mit diesem Entwickler arbeiten? Er ist bei uns nur zu den folgenden Zeiten verfügbar …“ Wir beschäftigen promovierte, hochkarätige Mitarbeiter in Teilzeit. Wenn der Kunde die Person im Projekt haben will, sollte er sich von vornherein darauf einstellen.

Eine komfortable Ausgangslage …
Stimmt. Aber ich wünsche mir auch von anderen Unternehmen an der Stelle mehr Mut. Liebe HRler, seid offener! Wir jammern alle über Fachkräftemangel und dass wir manche spezialisierten Positionen jahrelang nicht besetzt bekommen, dabei scheitert es oft an unseren eigenen starren Systemen. Natürlich kommt es auf Branche und Job an. Wenn jemand an einer Maschine arbeitet, kann er kein Home­office machen. In zu vielen Fällen werden Chancen jedoch aus Bequemlichkeit nicht wahrgenommen.

Antje von Dewitz, Chefin des Mittelständlers Vaude, sagte kürzlich in einem Interview, sie würde bei jedem weiteren Teilzeitantrag „schon ein bisschen stöhnen“. Allerdings arbeitet dort knapp die Hälfte der Belegschaft in Teilzeit. Wie geht es Ihnen?
Bisher haben wir nicht gestöhnt. Natürlich erhöht sich mit jedem Antrag der administrative Aufwand, was uns manchmal zusammenzucken lässt. Aber wir bekommen viel zurück. Gewisse Dinge mussten wir umorganisieren. So finden die täglichen Team­besprechungen inzwischen grundsätzlich am Morgen und nicht am Nachmittag statt, da sonst viele Teilzeitkräfte nicht mehr da sind. Wer im Homeoffice ist, wird via Videokonferenz zugeschaltet. Die agile Arbeits­weise eröffnet uns viele Möglichkeiten, die Umsetzung ist für uns eher eine Frage der richtigen Tools.

Die da wären?
Wir arbeiten mit dem Chat-Programm Slack, mit G-Suite und Google-Hang­outs mit Videotelefonie. In der Personalabteilung haben wir eine Kollegin, die von München aus arbeitet, andere sind im Homeoffice, wir stimmen unser Tagesprogramm daher via Video­schalte ab. Auch unser Aufgabenboard ist virtuell.

Wie organisieren Sie gemeinsame Veranstaltungen? Die Belegschaft zu Vollversammlungen zusammenzutrommeln, stelle ich mir kompliziert vor.
Wir haben drei große interne Events pro Jahr. Diese drei Termine halten sich in der Regel alle frei – und auch die Teilzeitbeschäftigten sind dann jeweils den kompletten Tag dabei.

Ein viel diskutiertes Problem der Brückenteilzeit ist, dass für die flexiblen Kollegen „Lückenfüller“ einspringen müssen: Kehrt der Kollege in die Vollzeit zurück, muss seine Vertretung zurückstecken. Oder es werden kurz­zeitige Ausfälle mit den Überstunden der anderen kompensiert.
Schwierig wird es nur, wenn man Stellen einfach nicht nachbesetzt und das Team die Mehrarbeit auffangen muss. Auch in diesem Punkt ist die agile Arbeitsweise enorm hilfreich: Fehlt in einem Team plötzlich eine Manpower von zehn Arbeitsstunden wöchentlich, muss umdisponiert werden. Das Bestandsteam schaut sich jeden Tag an: Was können wir heute schaffen, wie priorisieren wir unsere Aufgaben? Wir gehen iterativ vor und bewältigen genau das, was an dem Tag möglich ist. Dem Kunden wird klar kommuniziert, mit welchen Ergebnissen er beispielsweise innerhalb der nächsten zwei Wochen zu rechnen hat. Wenn man die Aufgaben anderen zusätzlich aufbürden würde, gäbe das ganz sicher – und zurecht – Unruhe im Unternehmen.

Wenn nun in einem Team fünf Leute gleichzeitig Stunden reduzieren wollten, würden sich Projekte erheblich verzögern. Werden in solchen Fällen befristete Vertretungen eingestellt?
Wir stellen Mitarbeiter extrem selten befristet ein, hauptsächlich im Fall längerer Elternzeitvertretungen. Bei Projekten ziehen wir entsprechend mehr Personen zu Teams zusammen oder kommunizieren dem Auftraggeber, dass wir weniger Stunden pro Woche leisten können.

Würden Sie nicht trotzdem versuchen, den einen oder anderen zu überzeugen, den Teilzeitwunsch zu einem späteren Zeitpunkt zu realisieren?
Das wäre nicht fair. Sollte ein Antrag dazu führen, dass ein Projektteam nicht mehr funktioniert, koordinieren wir die Teams um. Wir hatten aber auch schon Mitarbeiter, die auf uns zugekommen sind und den langfristigen Wunsch nach Teilzeit geäußert haben – und bereit waren, eine günstige Phase dafür abzuwarten. So etwas passiert nur, wenn große Offenheit und Motivation in der Kultur verankert sind.

Haben Sie im Zuge des erhöhten administrativen Aufwands auch in der HR aufgestockt?
Ja, wir waren lange zu viert und sind heute zu acht. Recruiting ist eine Mammutaufgabe, zumal wir jedes Jahr 20 Prozent Wachstum anstreben und komplett ohne Headhunter arbeiten.

Gibt es in Ihrer Abteilung eine klassische Aufgabenteilung?
Wir sind generalistisch aufgestellt, haben lediglich eine reine Recruiterin im Team. Wie alle im Unternehmen arbeiten wir agil. Im Strategischen nach Scrum und im Tagesgeschäft mit Kanban. Im vergangenen Jahr haben wir uns reorganisiert, seitdem gibt es in unserer Abteilung keine Hierarchiestufen mehr.

Davor gab es eine HR-Leitung?
Ja – das war ich. Aber ich hatte keine Schwierigkeiten damit, die Hierarchie aufzulösen. Im Gegenteil. Als großes, gleichberechtigtes Team arbeiten wir noch effizienter.

Führen in Teilzeit ist ein Dauerbrennerthema und nicht in jedem Unternehmen akzeptiert.
Es ist schön, nun zu erleben, dass auch Teamleads die Möglichkeit wahrnehmen. Als der erste Antrag kam, hat uns das darin bestätigt, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben. Teilzeitanfragen gab es von Führungskräften bisher tatsächlich noch keine, ich warte darauf, dass das passiert. Unsere Mentalität: Niemand sollte sich in eine Hierarchiefalle begeben, die ihm suggeriert, dass ohne ihn nichts mehr läuft und er alle Fäden in der Hand behalten muss. Alle Aufgaben lassen sich auf Teile herunterbrechen und verteilen, daran glaube ich fest.

Begrüßen Sie die Gesetzesänderung zur Brückenteilzeit?
Ja, aber ich stelle mir deren Umsetzung für produzierende Unternehmen, in denen es Schichtarbeit gibt und Maschinen teils 24 Stunden laufen müssen, als deutlich größere Herausforderung vor. In der Haut der HRler, die dort die Umsetzung planen und koordinieren müssen, möchte ich nicht stecken …

 

(c) Inovex
c Inovex

Seit 2011 arbeitet HRlerin Jasmina Groeger für Inovex.
Sie war Mitinitiatorin der neuen Teilzeitregelung, die 2015 eingeführt wurde.

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Anne Hünninghaus, Foto: Jana Legler

Anne Hünninghaus

Anne Hünninghaus ist Journalistin und Redakteurin bei Wortwert. Sie war von Januar bis Oktober 2019 Chefredakteurin i. V. des Magazins Human Resources Manager. Zuvor arbeitete die Kultur- und Politikwissenschaftlerin als Redakteurin für die Magazine politik&kommunikation und pressesprecher (heute KOM).

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